Zweiter Abschnitt: Aufklärung und Empfindsamkeit

Nach heutigem Verständnis sind Dichter Individualisten. Diejenigen, die es nicht sind, insofern sie mit ihren Hervorbringungen öffentliche Anforderungen oder andere Gemeinschaftsaufgaben zur Zufriedenheit der Auftraggeber erfüllen, werden Angestellten von Werbeagenturen gleichgeachtet oder zum mindesten nicht ganz für voll genommen. Kennern moderner Dichtkunst erscheinen Autoren, die politische oder überhaupt weltanschauliche Gedanken poetisch einkleiden, grundsätzlich als zweitklassig. Wer gar eine National- oder Landeshymne, ein im herkömmlichen Sinne religiöses oder traditionelle Werte bekräftigendes Werk geschrieben hat, erweckt Zweifel an seiner Lauterkeit als Schöpfer. Im 20. Jahrhundert war für das Ansehen manches britischen Lyrikers seine Erhebung zum 'Poet laureate' der Monarchie ein schwerer Rückschlag. Eben dies wäre aber für den Dichter innerhalb der ständischen Gesellschaft das erstrebenswerteste Ziel gewesen. Auch ohne ganz so hoch zu steigen, etwa als einer der vielen 'Poetae laureati Caesarei' im Blumenorden, kannte er seinen Platz und wurde anerkannt. Man muß sich nur klar machen, wie schlecht es um das Berufsbild 'Dichter' und die soziale Absicherung der Verseschmiede heutzutage bestellt ist, um zu ermessen, wie grundaufstörend der Wandel vom siebzehnten zum neunzehnten Jahrhundert in dieser Hinsicht gewesen sein muß.


Das Berufsbild 'Dichter' gerät ins Wanken

Die Mitglieder des Pegnesischen Blumenordens hatten daran in dem hier zu untersuchenden Geschichtsabschnitt erleidend Anteil. Birken und Omeis, die als kaiserliche Pfalzgrafen Dichterkrönungen selbständig vornehmen konnten, bezogen daraus wenigstens noch Gebühren. Schon die von ihnen erhobenen Laureaten konnten sich je länger je weniger einbilden, daß mit diesem Titel irgendwelche materiellen Vorteile verknüpft seien. Wieland, der auch noch 'Comes Palatinus' war, machte von seinem Recht nur einmal Gebrauch, und zwar ohne Bezug auf die Dichtkunst: Er erhob einen Vertreter des freireligiösen Enthusiasmus, einen gewissen Oberreit, zum Doktor der Philosophie1, aber er hätte nie unter diesem Siegel Aussagen über die Qualität eines poetischen Werkes gemacht. Titel dieser Art waren um 1790 nur noch Äußerlichkeiten.

Innerlich stimmte es schon lange nicht mehr, selbst wenn sich im Rahmen einer Dichtergesellschaft wie des Blumenordens noch lange die Fiktion hielt, man dichte aus der kleinen Gesellschaft der Hirten heraus für die weite Gesellschaft im Reich oder wenigstens für die Gelehrtenrepublik. Das neuzeitliche Subjekt fing an, sich in Gegensatz zu seiner Außenwelt zu stellen, um sich über seine individuelle Wesensart klar zu werden, seit das Rollenangebot der ständischen Organisation nicht mehr alle möglichen Bewußtseinsinhalte abdeckte.

Für die Dichtkunst bedeutete das, daß man Themen behandeln wollte, ja mußte, für die es kaum Gattungsmuster und jedenfalls keine sicheren Abnehmer gab, und daß andererseits das Dichten in den vertrauten Geleisen immer schablonenhafter geriet und zur bloßen Kunstfertigkeit herabsank. Die virtuose Kunstfertigkeit dieser Gebilde ist vielleicht ein Zeichen für den schleichenden Unglauben an ihrem Gehalt. Und wer das Zurechtklügeln von Rollen- und Gelegenheitsgedichten hinter sich ließ, fand deshalb noch lange nicht zu überzeugenden neuen Formen, sondern goß oftmals neuen Wein in alte Schläuche.

Der in einer literarischen Gesellschaft organisierte Privatdichter ist ein Unding, aber ebenso die privaten Anlässe für Gelegenheitsgedichte mit öffentlichem Charakter. So blieb den bewahrend gesinnten Dichtergemütern eigentlich nur das Gebiet der religiösen Meditation, um individuelle geistig-seelische Erfahrung mit herkömmlichen Themen, Formen und gesellschaftlicher Stellung zu vereinbaren. Und andere als am Herkommen hängende Gemüter fanden sich im Orden kaum zusammen. Das individuelle Dichten braucht zwar auch den Beifall Gleichgesinnter und den Austausch mit ihnen, aber es ist ein weiter Unterschied zwischen den Freundesbünden und Schulenbildungen der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und dem gemächlichen Sich-Ergänzen einer schon lange bestehenden Vereinigung in der ersten Hälfte des Jahrhunderts.

"Ad fontes!" — sehen wir uns die Quellen an. Auszüge müssen einer typologischen Betrachtung genügen; eine denkbar erschöpfende Übersicht des Vorhandenen bis auf das Jahr 1744 hat Renate Jürgensen seit dem Abschluß der vorliegenden Auswahl in ihrem erwähnten Buch Utile cum dulci geliefert, hier aber besteht nicht die Möglichkeit und auch kaum eine Notwendigkeit, die Beispiele zu vermehren.


Poetische Selbstdarstellung des Ordens

Ein Ordensjubiläum als Veranlassung eines Gedichtes befreit zunächst einmal von der Verlegenheit, einen Gegenstand von hinreichendem öffentlichen Interesse zu finden — unter der Voraussetzung, daß an die öffentliche Bedeutsamkeit des Ordens noch geglaubt wird. (Sonst wird die Rühmung zur geselligen, aber nicht mehr gesellschaftlich anerkannten Angelegenheit und verpufft irgendwie zwischen Vermeidung unerwünschten Eigenlobs und der notwendigen Verschleierung der wahren Bedeutungslosigkeit.) 1744 konnte das noch glücken. Man druckte, ließ zensieren und verbreitete in voller Länge als Einzeldruck in Form ineinandergelegter Quartblätter die von August Christoph Reichel (Eusebius) verfaßte Ode:

Eilt, Musen! eilt aus Teutschlands Grenzen,

Mars steckt noch nicht die Schwerdter ein.

Wo dessen Mord-Cometen glänzen,

Kan euer Sitz nicht ruhig seyn.

Verziehet; weicht; ach! bleibt zurücke;

Doch nein, bey so verworrnem Glücke,

Bey so ergrimmter Heere Macht,

Gibt man euch willig gute Nacht.

Wo der Carthaunen Donner brüllet,

Wo der Trommeten düstrer Schall

Die Lufft mit Angst und Schrecken füllet,

Steht Phöbus schon bey seinem Fall.

Hier darf man keine Künste hegen,

Wo ein entflammter Feuer-Regen

Um die verzagten Ohren pfeift,

Und nach dem [sic] Pracht der Städte greift.

Seht! Hier kan man viel tausend Leichen

In ihrem Blute schwimmen sehn;

Dort muß ein Heer dem andern weichen,

Und ohne Hofnung flüchtig gehn.

Da seh ich kämpfen, dorten siegen,

Hier Feind und Freund vermenget liegen,

Da, wie das Schwerdt im Fleische zischt,

Dort, wie sich Blut mit Staub vermischt.

Hier wird die Mauer überstiegen,

Dort sprengt man Minen in die Höh,

Da liegt ein Ort in letzten Zügen,

Dort sitzt der Bürger voller Weh

Bey dem betrübten Aschenhaufen,

Und läst die milden Thränen laufen,

Die Zeugen der bestürzten Pein:

Weil Stadt und Land verwüstet seyn.


Dieses Jammerbild, in den Jahren des Zweiten Schlesischen Krieges wohl recht naheliegend, verdankt dennoch manche Züge der literarischen Überlieferung noch von der Antike her. (Einzelnachweise müßten einen Altphilologen reizen). Daß die Leiber von Feind und Freund im Tode vermengt liegen, stellt wahrscheinlich einen Topos dar. Überraschend ist aber das Epitheton "milde" zu den Tränen des Bürgers. "Bitter" oder etwas dergleichen hätte man erwartet. Hier stiehlt sich ein Element der Idylle, des Gefühlskultes ganz privater, innerlicher und daher tröstlicher Art in eine Gedichtgattung, die eigentlich dem Schrecklichen, dem öffentlichen Unheil, mithin dem Erhabenen gewidmet ist. (Davon ein Beispiel ist die Darstellung des Schwertes, das durchs Fleisch zischt.) Stilbrüche dieser Art sind aber weniger als Anzeichen minderen Könnens zu werten — die Schablone "bittere Tränen" lag wirklich sehr nahe, also mußte Reichel einen guten Grund haben, davon abzuweichen — sondern als Vorläufer eines zeitbedingten Wandels in der Behandlung des Gegenstandes. Mir fällt dabei das Gedicht Sehnsucht nach Ruhe des preußischen Offiziers Ewald von Kleist ein. Darin stehen noch viel ausgeprägter ein zurückgezogenes, friedliches Leben mit der Freundin in einer ländlichen Ideallandschaft und das Toben des Krieges einander gegenüber. Kleist versteht aus eigener Anschauung noch ein Gutteil mehr davon als Reichel, und seine Kriegsszenen lassen in der Zusammenstellung und der aufnehmenden Überbietung bekannter Muster die oben zitierten Verse hinter sich, wenn es etwa heißt:

Wie wenn ein Heer Kometen aus der Kluft,

Die bodenlos, ins Chaos niederfiele,

So zieht die Last der Bomben durch die Luft,

Mit Feu'r beschweift. Vom gleißenden Gewühle

Fließt hier Gehirn, liegt dort ein Rumpf gestreckt;

Hier raucht Gedärm; so ist der Grund bedeckt.


Reichel setzt gegen die Schrecken und Verwüstungen des Krieges ein anderes Gegenbild als der empfindsame Kleist. Dieser kann auch in der Idylle, in der Liebe zu seiner "Doris", keinen sinnvollen Ausweg aus dem Dienst für seinen obersten Feldherrn Friederich mehr erblicken. Deswegen beschließt er seine "Sehnsucht nach Ruhe" mit der schmerzlichen Vorstellung, Doris drücke ihm nach seinem Tode die Augen zu. Das öffentliche Leben sei selbst im Frieden ein Übervorteilen, sagt eine seiner Strophen aus, und auch in der Idylle gebe es böse Nachbarn. Ewald von Kleist hat alles nur noch satt, als er im Siebenjährigen Krieg, 1759, an einer schweren Kriegsverwundung stirbt, als desillusionierter, lebensmüder Held. In seinem Gedicht steht der Kernsatz "Ein wahrer Mensch muß fern von Menschen sein", doch Reichel singt das Lob eines weisen Regiments, das seinen Bürgern den Krieg erspart. Das ist keine so neuartige Aussage wie Kleists Weltschmerz. Der Blumenhirte Eusebius bewegt sich noch innerhalb des Gedankenguts der Aufklärung, welcher mehr an geselligen Tugenden als an Heldentum oder Einsamkeit gelegen war.

Und wie! Ist Noris nicht bemühet,

Sorgt nicht der weisen Väter Rath/

Daß Kunst und Wissen bey uns blühet?

Wo ist ein Land, wo ist ein Staat,

Der mehr für seine Bürger wachet,

Wie er sie klug und glücklich machet,

Und bey der Völker Kampf und Streit

Von Nacht und Finsternus befreyt?


Seht, sucht in den vergangnen Zeiten,

Was unsrer Häupter Schutz gethan,

Wie Sie weit mehr mit Klugheit streiten,

Als sonst der Waffen Schärfe kan.

Es müssen die erhabne Sinnen,

Und nicht die Macht, den Sieg gewinnen;

Nicht Stücke, Pulver, Schwerdt und Bley,

Nein; Ihre Weißheit macht uns frey.


Ein schöner und beherzigenswerter Standpunkt, der in einem Feiergedicht am Platze ist. Halten wir dieses Ideal nur immer hoch. Wir wissen dabei freilich, daß alles diplomatische Geschick den Nürnberger Stadtvätern des 17. Jahrhunderts nichts geholfen hätte, hätten sie nicht auch aus den Rücklagen einer reichen Zeit genügend Mittel aufgeboten, um ihrer Stadt den Frieden zu erkaufen. Nun, 1744, bedarf man zur Friedensliebe nicht mehr besonderer Weisheit, da es in Nürnberg ohnehin nichts mehr zu holen gibt. Untätigkeit, bzw. Lavieren auf der Stelle, ist sowohl das Gebot der politischen Klugheit als auch das einzige, was den Nürnbergern übrig bleibt.

Als eben jetzt vor hundert Jahren

Das Reich deß Krieges Bürde fühlt,

Und eine Menge wilder Schaaren

In dessen Eingeweyde wühlt:

So macht doch unsrer Väter Sorgen,

Daß noch der Wahrheit holder Morgen

Der Noris Horizont bemahlt,

Und über ihren Scheitel strahlt.


Spielt Reichel hier auf Hans Sachsens sogenannte "Reformationshymne" an? ("Wacht auf, es nahet gen dem Tag?") Jedenfalls feiert er mit seiner Lichtmetaphorik die Errungenschaft einer verhältnismäßigen Geistesfreiheit, die darin besteht, daß Nürnberg das mehrheitlich ergriffene lutherisch-orthodoxe Bekenntnis behalten konnte. Aus dieser Sicht wird der Protestantismus zum Vorläufer der Aufklärung, und die Rolle des Blumenordens rückt in den Zusammenhang der erfolgreichen Abwehr der Gegenreformation:

Ein Mann von ungemeinem Witze,

Den ieder noch im Grab verehrt,

Hat, mitten unter dem Geschütze,

Der teutschen Musen Flor vermehrt.

Er, als ein Grundgelehrter Kenner,

Versammlet sich die grösten Männer,

Und weist sie auf der Dichter Bahn

Zum Ruhm und Preiß deß Höchsten an.


Die nun folgende Strophe ist der wenig überraschenden Eröffnung gewidmet, wer diese Männer waren. Reichel fährt dann fort:

Ich suche nicht den Fleiß zu loben,

Womit sich diese Schaar erhöht.

Ein jeder nehme selbst die Proben,

Und seh, wie weit der Vorsatz geht.

Doch werdet ihr, erhabne Dichter,

Von dieser ihrem Singen Richter;

So geht mit eurem scharfen Blick

Auch mit in ihre Zeit zurück.


Daß man frühere Dichtung auch nach den Maßstäben und den Möglichkeiten der Entstehungszeit beurteilen solle, ist 1744 ein noch ziemlich neuer Gesichtspunkt: Es war noch nicht lange her, daß man nur einen, ewig gültigen Satz von Werten — Horaz, vermittelt durch Boileau — zur Richtschnur nehmen zu müssen glaubte. Ganz verleugnen kann Reichel diese Auffassung noch nicht; für ihn gibt es kulturell tiefer und höher stehende Zeiten. (Die neueren sind, dem naiven Fortschrittsverständnis der Epoche gemäß, grundsätzlich die besseren.) Aber er gibt schon zu bedenken, ob man nicht Vorläufer eben deshalb hochschätzen solle, weil ohne sie der spätere Flor nicht möglich gewesen wäre.

Hier war der Weg nach Pindus-Höhen

Mit Dorn und Sträuchen noch besät.

Was Wunder! wann wir sichrer gehen,

Da uns nichts mehr im Wege steht?

Doch darf ich nur die Namen nennen,

Ich weiß, ein jeder wird bekennen,

Daß sich ein nicht geringer Geist

In ihrem rauhen Kleide weist.


Rom prangt nicht gleich mit Marons Stärke,

Es singt ihm Ennius erst vor.

Und wann ich auf die Teutschen merke,

So stieg man nach und nach empor.

So ist auch unser Blumen-Orden

Zuerst noch angebauet worden;

Allein wer sieht nicht, daß die Zeit

Auch hier weit beßre Früchte beut?


Im Hinblick auf die Geläufigkeit, mit der im 18. Jahrhundert die deutsche Sprache in Metren und Reimformen gegossen wird, ohne daß die Wörter übermäßig zurechtgestutzt werden müssen, kann Reichel durchaus recht haben. Was er, wie später die Epigonen der Klassik im 19. Jahrhundert, nicht sehen kann, ist die nach der Lösung formaler Probleme leicht einreißende Einfallslosigkeit, das Augen-Verschließen vor neuen Aufgaben, die drittklassige Poeten aus der Behaglichkeit ihres beherrschten Handwerks scheuchen könnten. Er kann es nicht sehen, weil in Nürnberg zu dieser Zeit noch ganz andere, allgemeinere Zeitfragen, von denen die poetische Wahrnehmung aber abzuhängen pflegt, mehr oder weniger bewußt verdrängt wurden. Das müde Abwinken, aus einer Position gekränkten Stolzes, kann man sich deutlich vorstellen, wenn von den Bestrebungen nach der Errichtung fester Theaterbauten die Rede war: Haben wir doch längst. Soziale Frage: Bitte sehr, unseren Handwerkern geht es besser als den öffentlichen Finanzen, und die Spitäler samt dem Almos-Amt dienen anderen Städten als Vorbild. Was die Politik betrifft, haben wir ja schon gesehen. Und so weiter. Es muß schwer gewesen sein, einen Nürnberger der Abstiegszeit davon zu überzeugen, daß alles anders werden müsse.

Wo Omeis, Werner, Faber, Birken,

Reusch, Fürer, Lang, Wegleiter war,

Da muß der Fleiß was gutes würken,

Da stellt sich nichts gemeines dar.

Ich melde nicht, die annoch leben;

Dann diese wird ihr Ruhm erheben.

Genug, daß man kein Glied nicht wählt,

Dem unsrer Sprache Känntnus fehlt.


Si tacuisses! Was Eusebius gerade in dieser Strophe vermissen läßt, ist eigentlich die grundlegendste Voraussetzung für dichterische Betätigung in der Schriftsprache: eine saubere Grammatik. Wenn doppelte Verneinung und eine schon für Birkens Begriffe obsolete Endung durchgingen, dann wundert einen nicht mehr, warum die Namen der Pegnesen von 1744 nicht weithin rühmlich bekannt wurden. Stattdessen mußten sie unbedingt eine bestimmte Orientierung haben, von der nun sechs Strophen lang zu lesen ist. Der Leser kennt das schon, deswegen wird hier nur die sechste zitiert:

Diß ist die erste von den Pflichten,

Worzu uns unser Stiffter führt:

Ein Glied bezeug in seinem Dichten

Nichts, als was seinem [sic] GOtt berührt.

Wie! kan nun jetzt die Zunge schweigen?

Diß sey dem Ungehorsam eigen.

Wir stellen in vereinter Schaar

Deß weisen Strephon Bildnus dar.


Und in diesem Sinne geht es nun noch vier Strophen weiter. Hier wird die Verengung des Grundsatzes "Alles zur Ehre des Himmels" überdeutlich. Abgesehen davon, daß Harsdörfer durch die Brille Birkens gesehen wird: Wenn die Mittelmäßigkeit das Wort ''Ungehorsam" im Munde führt, gerät der wahre, nötige Gehorsam gegenüber dem Geist der Gesellschaft in ein schiefes Licht. Es sieht seltsam aus um die Moral im Orden zur Hundertjahrfeier: Anscheinend muß eigens darauf hingewiesen werden, daß noch mehr Lieder zum Preis des Höchsten verfaßt werden sollen. Warum nur Lieder, d.h. lyrische Kleinformen? Und wie steht es um die Breite der Themen? Gibt es da nichts Übergreifendes, neben dem dienstwillig Abgelieferten zu schicklichen Anlässen

Reichel selbst ist ein fruchtbarer Gelegenheitsdichter und nun als Verfasser von Oden zu feierlichem Anlaß etabliert; als Schwarz zum nächsten Präses gewählt worden ist, fällt ihm die nächste derartige Aufgabe zu.


Unpoetische Selbstdarstellung des Ordens

Datiert vom 5. 9. 1750, ist im Pegnesenarchiv ein Exemplar des Einzeldrucks seines (Reichels) Feiergedichtes bewahrt. Daraus stammen folgende Verse:

So weit bisher das Licht der Künste,

Zum Heil der Welt, die dicken Dünste

Der Barbarei durchbrochen hat;

So weit der Tugendbild , an wilder Sitten stat,

Den Geist der Menschen reizend kleidet:

So weit erhebt man Dich erfreut,

Und glaubt gewiß, daß einstens noch die spätste Zeit

Uns die wir Dich selbst sahn und die Du lehrtest, neidet.


Das fängt gut an mit einer lockeren, Verszeilen übergreifenden, weitgespannten Gedankenführung in madrigalisch abwechselndem Metrum, klanglich ansprechend und nachdrücklich. Aber dann diese letzte Zeile mit zu vielen einsilbigen Wörtern und ihrem verschraubten Satzbau! Da landet der Flug des Pegasus mit einem Scheppern.

Deßwegen wünscht man Deinen Schriften,

Die Dir ein ewigs Denkmal stiften,

Sie auf Asbest gedruckt zu sehn,

Damit sie eher nicht, als mit der Welt vergehn.

Fort mit dem Streit, der Franckreichs Söhne

Vor sechzig Jahren so erregt:

Schwarz macht, das Perralt seinen Feind aufs neu erlegt.

Dann schreibt und denckt zugleich das Alterthum so schöne?


Er muß, wenn auch mit sechzig Jahren Verspätung, den Hauptstreitpunkt der sattsam bekannten 'Quérelle des anciens et des modernes' noch einmal heranziehen: daß die neuen Schriftsteller den antiken überlegen seien. Nur, daß Melanders Schriften schon zu seiner Zeit toter waren (wenn man ausnahmsweise den Komparativ zuläßt) als die der Antike. Aus der Antike aber schöpften damals und noch weiterhin zahlreiche Gymnasiastengeschlechter ursprüngliche poetische Empfindungen und Anregungen. Und das muß doch im Pegnesenorden mindestens einigen klar gewesen sein. Derartige Lobeserhebungen wirken dann bloß noch peinlich.


Post-mortem-Barock



Wir wollen nicht unbillig urteilen. Was aus einem Gesichtspunkt, dem des geistesgeschichtlichen Fortschritts, als Klotz am Bein erscheint, nämlich das unbedingte, für Nürnberg bezeichnende Zusammenstehen von Kirche, Kultur und Regierung, das hätte aus dem Gesichtspunkt des literargeschichtlichen Fortschritts kein Hindernis darstellen müssen.


Wie fromm war nicht Klopstock, der doch gerade zu dieser Zeit daranging, ein Epos über — ausgerechnet — Jesus Christus zu schreiben. Man hätte von der Theorie der Gattung her Klopstocks Vorhaben von vorneherein das Scheitern prophezeien können. (Epen brauchen, einfach ausgedrückt, einen Helden, der vorwiegend innerhalb des materiellen Lebens Erfolg hat, indem er feste zuschlägt, und eine ganze Sippe solcher Helden, und buntestes Gewühl von Völkerschaften in frühgeschichtlichen Lebensumständen, und... Man hätte es beim altdeutschen Heliand belassen sollen; der kam noch am nächsten an diese Beschreibung heran. Aber er war nicht sehr christlich.) Milton hatte in seinem christlichen Epos ja immerhin noch den Menschen in den Mittelpunkt stellen wollen und genialischerweise den Satan als eigentlichen Helden gestaltet. Milton hatte Erfolg, er bildete in den ästhetischen Auseinandersetzungen der Schweizer Kunstrichter mit den sächsischen ein wichtiges Thema; andere — nicht bloß Klopstock — eiferten ihm nach, der Büchermarkt war mit Erbaulichem noch lange nicht gesättigt, also konnte Reichel mit gutem Recht religiös-erbauliche Dichtung von seinen Blumengenossen fordern, ohne ganz aus der Zeit zu sein.


In Nürnberg war man mindestens darüber gut im Bilde, was sich in England einige Jahrzehnte zuvor getan hatte; wenn man an die gleichzeitige, offiziell anerkannte Kultur im Leipzig Johann Sebastian Bachs denkt, hält man es sogar für möglich, daß uns derartiger 'Post-mortem-Barock' heute auch ganz gut gefiele. Ich wage diese Wortbildung in Anlehnung an den kunstgeschichtlichen Begriff der 'Post-mortem-Gotik'. Was das ist, kann man sich angesichts der Maßwerkbrüstungen in Nürnberger Häusern des 17. Jahrhunderts klarmachen; oder besser, man geht nach Ansbach und sieht sich die Dreiturmfassade von St. Gumpert an: Was da um 1597 gebaut worden war, als man in Rom schon barocke Kirchen errichtete, entspricht so schön dem Caspar-David-Friedrichschen Ideal einer gotischen Kirche, daß uns dabei wärmer wird als bei den echten. Bachs Musik und gewisse poetische Texte der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts haben damit gemeinsam, daß sie in ihrem selbstgewählten Aus-der-Mode-Sein strukturell weiter ausgefeilt sind als das wahre Zeitgenössische, das sich die richtige Form für die neuen Inhalte noch ertasten mußte und für den Kunstliebhaber aus einem Abstand von zweihundert Jahren oft schwächer wirkt.


Warum also blieb kein größeres christliches Werk von all diesen christlichen Schäfern? Noch war die Zeit nicht gekommen für Lessings boshaftes Epigramm über die geringe Leserschaft des gelobten Klopstock; wer vorhergesagt hätte, daß derartige Literatur einem respektlosen Komödienschreiber den Einfall eingeben könnte, sie als Einschlaflektüre des Teufels auf die Bühne zu bringen, wäre sehr, sehr schief angesehen worden; das heutige Empfinden, das Werthers und Lottes hingehauchtes Klopstock" schon wegen des Wortlauts als klassischen Fall unfreiwilliger Hochkomik registriert, lag den damaligen Lesern noch fern. Die Pegnesen hätten Erfolg haben können mit ihrer Dichtung zum Preis des Höchsten, wenn — ja, wenn sie sich in sprachlicher Hinsicht mehr zugetraut hätten (wie Klopstock, dessen wortschöpferische Kühnheit aber von der geltenden Satzung verpönt wurde). Denn die Gestaltung macht Dichter, nicht das Thema. Und Schwarz fütterte das Stilgefühl dieser Generation weiterhin mit seiner abgelebten galanten Rhetorik. Noch dazu gab man sich womöglich noch gelahrter mit seinem Latein, während man unbekümmerter mit seinem Deutsch umsprang als zu den ersten, kämpferischen Zeiten der deutschen Sprachpflege — wofür der Orden ja eigentlich gegründet worden war. Schönleben-Calovius, zum Beispiel, übertrug zwei lateinische Oden zum Lob der Buchdruckerkunst, die Schwarz zum dreihundertsten Jubeljahr der Erfindung Gutenbergs verfaßt hatte, ins Deutsche, kam aber nicht auf den Einfall, die antike Reimlosigkeit auch einmal zur Würde unserer Sprache anzuwenden — wie Klopstock, dessen Oden, bei Kennern jedenfalls, anhaltend beliebt sind. Wenig fehlte um 1750, was den Orden zu einer verdienstlichen und anerkannten Dichtergruppe machen konnte; aber dieses wenige bewirkte eine Welt von Unterschieden.


Der Blumenorden wurde in diesen Jahren oft vom Tod heimgesucht. Rührendstes Zeugnis davon sind nicht die pompösen Traueroden zu Florandos, Amarantes', Melanders oder Alcanders Abscheiden, sondern, dazwischen aufbewahrt, ein in schwarzes Glanzpapier eigenhändig eingebundenes, handschriftlich sauber vollgeschriebenes Heftchen im Oktavformat. Der Verfasser ist der damalige Zweite Ordensrat. Es gibt von ihm ein schönes Kupferstichporträt. Respektabel angetan, modisch in Kurzhaarperücke, kommt er dem Betrachter dennoch mit so gütigem Blick entgegen, daß er sogleich menschlich nahe erscheint. Von dieser Seite her war er sicher ein guter Arzt. Er war 1720 geboren, wurde 1745 aufgenommen und starb 1775. Chiron, Dr. med. Johann Konrad Wittwer. Nomen est Omen.

Seine erste Frau starb im Wochenbett am 20. 7. 1746. Es war die Tochter Negeleins, die erst zwei Jahre zuvor, bei der Hundertjahrfeier, als Clarinde in den Orden aufgenommen worden war. Chiron war dabei, ein Dankgedicht auf ihre glückliche Entbindung zu schreiben, als die dramatische Verschlechterung ihres Gesundheitszustands einsetzte. Wie er in einer Vorbemerkung im Einband mitteilt, ist das so entstandene Freuden- und Trauergedicht sehr unmittelbar, "in den ersten Tagen entworfen" worden. Er ließ es so, der poetischen Gattungsregeln unerachtet, als privates Lebens- und Leidenszeugnis.


Neuer Wein — alte Schläuche?

Auf Musen helfet mir, ein DankLied jezt zu singen,

Daß Gott an meinem Schatz die heissen Wünsch erfüllt [...]


So geht es sehr konventionell an. 'Schatz' war wohl als Kosename noch nicht ganz so abgebraucht, sonst wäre in Bezug auf den klassizistischen Anfang ein Stilbruch zu konstatieren. Es geht freilich sehr bürgerlich-intim und dabei aufgeladen mit Besitzdenken weiter:

Wie aber soll ich mich jezt gegen Dich bezeigen,

Mein liebstes in der Welt, mein Herz, mein AugenLust;

Wie mach ich Dir die Freud, der keine zu vergleichen,

Die Deine Niederkunft in mir erweckt, bewußt?

Kan ich wohl meine Schuld durch etwas Dir bezahlen

Vor diese harte Bürd, die Du ertragen hast ?

Vor allen Schmerzen, den ohnmöglich abzumahlen,

Biß du entbunden warst von dieser schönen Last:

Die du 9. Monat lang so sorglich hast ernähret

Mit süssen Säften so dein zarter Leib verlohr;

Die oft dein junges Herz in seiner Ruh gestöret,

Und tausend Aengsten bracht in deine Seele vor.

O nein, ich glücklicher, ich kan dir sonst nichts geben,

Als was ich dir geschenckt in dem vergangnen Jahr.

Der Anblick deines Wohls schenckt mir allein mein Leben [...]


Jetzt käme es darauf an zu wissen, ob schon beim Abfassen der nächsten Zeilen der traurige Umschwung eingetreten war und Wittwer, beim Aufholen des in der Sorge unterbliebenen Schreibens, dramatische Ironie anwendet, oder ob er noch ganz ahnungslos war:

Der Anblick Deines Wohls schenkt mir allein mein Leben,

Das ohnehin für Furcht fast schon verlohren war.

Der Dich bißher beschützt, wird ferner Dich erhalten;

Deßwegen nur getrost; der gab dir einen Sohn,

Der wird als Vatter auch noch ferner ob uns walten;

Er hört mein Flehen ja auf seiner Gnaden Thron.

Von Menschen kanst du stets den treusten Beystand sehen;


Damals waren die Ärzte ihrer Macht über die Krankheit noch nicht so gewiß, handelten im Bewußtsein, daß Gott alles auch anders fügen könne, und sahen nicht auf die Bemühungen pflegender Angehöriger mit einer Mischung aus Duldsamkeit und Argwohn herab, sondern betrachteten sie als gleichberechtigt und ganz unverzichtbar:

Schau die Bemühungen der werthesten Mama;

Mich als den Arzt, der nicht von deinem Bett wird gehen.

Ja was nur helfen kann, das alles ist schon da.


Wer denckt in unsrer Stadt so heiße SommerTäge?

Da alles Gras verbrennt, das Blat von Bäumen fällt,

Die Erd von Dürre reist in Feld und auf dem Wege,

Wo keine Pflanze ist, die ihre Blume hält;

Als wir seit vierzehn Tag ohn allen Regen haben.

Mit was erquicke ich anjezo meinen Schatz!

Weiß unser einer nicht mit etwas sich zu laben.

Die Kühlung findet ja bey Ihr nun keinen Platz.


Man war schon lange auf das Klima als Ursache mancher Abweichungen im Krankheitsverlauf aufmerksam geworden, aber zu dieser Zeit leitete man sogar schon die Unterschiede des Nationalcharakters davon ab — das Konzept hatte mehr Gewicht.

Chiron schreibt nun zweifelsohne schon nach dem Tode seiner Frau. Er sucht nach Ursachen, die seine Hilflosigkeit entschuldigen, und findet sie in dem für Nürnberg außergewöhnlich trockenen und heißen Juliwetter. (In der Tat ist es gegen Ende Juli bei uns meist regnerisch.) Seine Beobachtungen des vorzeitigen Blätterfalls und des rissigen Bodens verraten den geübten Naturwissenschaftler und sind, im Zusammenhang mit der engen Ortsangabe "in unsrer Stadt", von beklemmender Authentizität. Es ist eine kleine Welt, in der sich das abspielt, aber wer sie genau betrachtet, wie Leuwenhoek die Infusorien im Wassertropfen, kann ganz davon gefangengenommen werden. Noch ist die Mikroskopie neu und sind ihre Ergebnisse ansprechend, ja erschütternd — auch auf dem Gebiete der Dichtung. Man kann wohl nicht behaupten, daß frühere Gedichte nicht auch menschliche Angelegenheiten in Miniaturgemälden abgebildet hätten, doch war das ganz und gar Zufällige, das Kontingente, eher Nebensache gewesen, und man war doch mehr auf allgemeingültige Aussagen bedacht. Die Stilisierung der gebundenen Rede tat ein übriges, das Individuelle in den Rang des öffentlich Mitteilbaren zu erheben, indem die für lautes Vorlesen berechneten Wirkungen ein Band zwischen Autor, Rezitator und Hörer knüpfen konnten, das dem Gegenstand wenig oder nichts verdankte und ihn dadurch akzeptabel machte. In dieser Hinsicht wäre das vorliegende Gedicht ziemlich schlecht. Aber es wirkt auf den genauen Betrachter aufregend, wie neuartig die Haltung ist, die um diese Zeit möglich wird und sich hier ausspricht: daß jemand im Drang seiner Gefühle, um nur ein wenig Ordnung in seine Gedanken zu bringen, seine Zuflucht zum Dichten nimmt. Diese Betrachtung wird herauszufinden versuchen, was sich dadurch an der Dichtung selbst und an dem Verhältnis zum möglichen Leser ändert.

Zunächst ist eines klar zu sehen: Die diagnostische Genauigkeit, womit der Krankheitsverlauf beschrieben wird, hätte aus dem Gegenstand einen klinischen Fall gemacht. Das war nicht Wittwers Anliegen, denn er war selbst diesmal betroffen und hatte das Bedürfnis, auch diese Betroffenheit durch den Ausdruck zu bannen. Beides kann er noch nicht recht in der Aussageform vereinbaren. Pathetische Ausrufe des MitLeidenden mischen sich seltsam mit trockenen Feststellungen des erfahrenen Praktikers. Aber das ist das wahre Leben! Die goethezeitliche Lyrik, die einige Jahrzehnte später mit der formalen Aufgabe besser fertig wird, stellt im Hinblick auf die wirkliche Uneinheitlichkeit des Bewußtseins einen psychologischen Rückschritt dar und läßt dem Naturalismus noch einiges zu tun übrig.

Ich seh O Jammer! Sie, in Ihrem Schweiße baden.

Doch ist schon, Gott sey Dank, der fünfte Tag vorbey.

Ums Herze wird Ihr bang; ich kan es schon errathen,

Was Sie zu fürchten hat, daß es ein AusSchlag sey.

Er ist doch schön heraus: ob Sie gleich nicht kann schlaffen.

Allein was soll das seyn? mir wird auf einmal bang.

Ich will noch einen Arzt zu ihrer Hülffe schaffen.

Es ist doch alles noch in ordentlichem Gang.

Ach Engel? Wie ist Dir? schau wie ich mich betrübe.

Spürst Du auch eine Furcht? Glaubst Du Dich in Gefahr?

Ich finde keine nicht. Doch du kenst meine Liebe

Die zittert und befürcht, es sey nur allzu wahr.


Man wird Zeuge aller Umschwünge des Gefühls; man erlebt den Autor als einen Empfindsamen. Unterscheidung zwischen dem eigentlichen Verfasser und dem 'lyrischen Ich', der angenommenen Verfasserrolle und dem empirischen Ich des Verfassers führen hier nicht weit, wären pedantisch. Kein Wunder, daß gerade der durchschnittliche heutige Leser, soweit er sich von Lyrik noch ansprechen läßt, solche Unterscheidungen auch nicht machen will: Er ist in aller Regel bürgerlicher Gesinnung und fühlt sich daher dieser empfindsamen Epoche geistesgeschichtlich verpflichtet, sobald er Verse sieht. Wie schlecht versteht er folgende Verse, wenn er sie im Vergleich zu Chirons Unmittelbarkeit befremdlich konventionell empfindet:

[...] Wer tut und trägt, was Gott gebeut,

Aus Gottes Willen macht den seinen

Und küßt die Hand, die Strafe dreut,

Wird danken, wo er meint zu weinen.


Es kam der Mann, den Gott erwählte,

Ein Werkzeug seiner Huld zu sein:

Er sah, was die Geliebte quälte,

Mit unbetrogner Scharfsicht ein.


Gleich legte sich der Brand, der in den Adern glühte,

Das heimlich starke Gift, verjagt aus dem Geblüte,

Wich minder edlen Stellen zu;

Ihr Herz fand Kraft, ihr Haupt die Ruh.


Ein frischer Trieb fuhr in die matten Glieder,

Sie sah das fast verlassne Licht,

Mit halb verblendetem Gesicht,

Die Welt und mich erkannte Sie nun wieder. [...]


Der berühmte Albrecht von Haller, ebenfalls Arzt und Dichter, hatte zehn Jahre zuvor, 1736, ebenfalls seine Frau verloren; auch er hatte einen zweiten Arzt herangezogen, und es schien erst eine Besserung einzutreten. Auch hier sieht man verschiedene Stadien, aber keine Momentaufnahmen aus einem sich ändernden Bewußtsein, und alles, nicht nur an dieser Textstelle, ist in die Haltung der Gottergebenheit eingepackt, auf daß der Leser nicht irgendeine Krankengeschichte, sondern ein aufrichtendes Exempel vorgeführt bekomme. Freilich ist die sprachliche Bewältigung der Symptome viel gekonnter. Wer so einen Abstand nimmt und sich in eine Rolle hineinschreibt, ist das dem Leser schließlich schuldig.

Im Gedicht unsres Chiron folgt ein Dialog, in dem Clarinde, die Patientin, ihn beruhigt. Er bleibt besorgt und ruft Gott um Hilfe an.

A. Ach fasse dich mein Schatz, mach mir die Angst nicht grösser,

Das Herze klopft zwar starck, und druckt mich auf die Brust.

Allein es düncket mich es wird schon etwas besser;

Die Augen sind ja klar und bin mir wohl bewußt.

Damit man aber Dich einmal mit Unrecht kränke,

So nehm ich andrer Hülff mit viel Verlangen an.

B. Ach Gott erbarme Dich, erhöre mich und schencke

Noch lange mir mein Herz; Du bists der helffen kann.

Sie ist jezt ziemlich still, allein von keiner Dauer;

Denn dieß ist ja kein Schlaff, Sie zwingt sich nur zur Ruh.

Ach Gott wenn hilfst Du doch! Das athmen wird Ihr sauer,

Die Nieren öfnen sich, die Hitze nimt auch zu.

Der Arztkollege trifft ein und beginnt seine Untersuchung.

Nun gut jezt komt der Arzt, den Sie allzeit erkohren

Man halte ihn nicht auf, Sie wartet mit Begier.


Was vor ein Angst Geschrey durchdringet meine Ohren?

O unerhörter Thon! Ach Gott was seh ich hier!

Was vor Veränderung ist auf einmal geschehen!

Die Arme scharlachroth verwandlen sich in Schnee!

Mein Schatz befiehlt sich Gott, Sie kan uns kaum mehr sehen.

Stirbt sie, so gieb, daß ich mit Ihr zu Grabe geh.

Ist keine Rettung denn auf Erden mehr zu finden?

Soll Ihrer Jahre Lauf denn schon geendet seyn?

Soll mir mein eigen Fleisch zur Hälfte schon verschwinden?

Das meine Labsal war, sezt mich in Qual und Pein?

O Schmerz! Sie rufet uns, sie will noch etwas reden.

O Großmuth! sehet doch, wie Sie die Angst verlacht.

Soll dieser Anblick mich nicht auf der Stelle tödten,

Der mich Zeitlebens arm, betrübt und elend macht?

Wie zärtlich dancket Sie! Sie gibt uns auch den Seegen:

Ihr Abschied schmerzt sie selbst: empfiehlt Ihr JammerKind.

Sie nimt all Hülffe an, nur unsres Trostes wegen:

Allein Sie spürt gar wohl, daß wir verlassen sind.

Ihr Geist befindet sich schon hier in Jesu Armen,

Ob gleich dem Leibe nach Sie mit dem Todte ringt.

Die Sinnen sind dahin, Gott will sich Ihr erbarmen,

Und enden Ihren Kampf, der Ihr so wohl gelingt.


Die entsprechende Stelle bei Haller liest sich wie ein Kommentar dazu:

Nicht Reden, die der Witz gebieret,

Nicht Dichterklagen fang ich an;

Nur Seufzer, die ein Herz verlieret,

Wann es sein Leid nicht fassen kann.


Ja, meine Seele will ich schildern,

Von Lieb und Traurigkeit verwirrt,

Wie sie, ergötzt an Trauerbildern,

In Kummerlabyrinthen irrt.


Ich seh dich noch, wie du erblaßtest,

Wie ich verzweiflend zu dir trat,

Wie du die letzten Kräfte faßtest

Um noch ein Wort, das ich erbat.


O Seele voll der reinsten Triebe!

Wie ängstig warst du für mein Leid!

Dein letztes Wort war Huld und Liebe,

Dein letztes Tun Gelassenheit.


Haller kann nichts dafür, daß uns seine Versicherung, er wolle nichts künstlich Ausgedachtes schreiben, so falsch vorkommt, nur noch als rhetorischer Trick; im Vergleich mit der vorausgegangenen barocken Dichtung konnte er sich subjektiv unmittelbar wähnen, und er konnte nicht ahnen, wie bald das Zerbrechen der inneren Form seines Gedichtes jemandem möglich erscheinen konnte bis auf den Grad, ein solches Un-Gedicht aufzuschreiben. Wenn jemand übrigens meint, in der Parallelität der geschilderten Ereignisse und den letzten Worten der bedauernswerten Frauen ein Element der literarischen Konvention auch noch bei Wittwer erkennen zu sollen, kann ich ihm versichern: Ich kenne leider selbst den Fall einer Arztfrau, die an der Geburt von Zwillingen noch 1980 in der Erlanger Universitätsklinik starb; ihre letzten Worte waren eine Entschuldigung für die Ungeduld, die sie gezeigt hatte, als ihr ein Herzkatheder geschoben wurde. Frauen können wirklich so tapfer sein und Haltung zeigen wie Soldaten — indem sie Leben schenken, nicht wegnehmen. Aber das wäre wieder eine generell erbauliche Aussage. Unser Chiron, in dem schweren Erwachen, das der Atemlosigkeit des Unglück-Erlebens folgt, ist weit von einer solchen entfernt und fragt sich, ob es denn wirklich geschehen sein kann.

Wie ist mir? Träume ich? ist alles dieß geschehen?

Daran vor einer Stund noch niemand hat gedacht.

Ist es denn würcklich so, was ich allhier gesehen,

Daß Gott mich in der That zum Wittwer hat gemacht?


Es ist schwierig, diesen Wortwitz recht abzuschätzen. Eine Generation früher, bei Johann Christian Günther, bewundert man formale und sprachliche Virtuosität bei unschamhafter Herausstellung des ganz persönlichen, zerrissenen Gemütszustandes — und die gelegentliche wegwerfende Schlußpointe, wie später bei Heine, fehlt auch nicht. In den Jahrzehnten darauf war die Lyrik trockener geworden und auf eine Kultur des geselligen Witzes angelegt. Das mußte vor intimen Erschütterungen versagen. Ist es schlechter Geschmack, Zeichen der Unaufrichtigkeit oder schon wieder ästhetisch originell, daß Wittwer hier mit seinem Namen spielen kann? Es mußte ihm — so oder so — durch den Kopf gehen. Ungeniert, wie das Unglück macht, schrieb er es hin. Aber was für eine Leser- oder Hörerschaft konnte er sich dabei versprechen? Die in einer Art expressionistischem Spätbarock zurückgebliebene? Auch Günther hat sein verständnisvollstes Publikum erst lange nach seinem Tod gefunden. 'Grelle' Wirkungen, am besten von höllischem Verzweiflungsgelächter begleitet, liebt später der Sturm und Drang, auch noch das Biedermeier. Aber die Pegnesen von 1750? Wenn der Vermerk auf dem Titelblatt, in anderer Handschrift und Tinte, nur etwa in die Entstehungszeit fiele, müßte er dieses Gedicht ja jemandem mitgeteilt haben: "Clarinde Panzer, Gattin des M. Georg Wolfgang Panzer, Schaffer und Pastor bei Sct. Sebald, 1746". Es gibt aber keine Clarinde Panzer. Dessen Gattin hieß Rosina Helene, mit Ordensnamen Resilis. Mag sein, daß sich das Schriftstück später einmal im Besitz der Familie Panzer befand, bevor es ins Archiv gelangte, und jemand den falschen Vermerk in der Meinung anbrachte, Clarinde sei irgendwie mit einem Präses in Verbindung zu bringen. Sie war aber die Tochter des Präses Negelein. Es scheint jedenfalls, als habe Chiron sein Gedicht zunächst ohne Rücksicht auf Wirkung nach außen verfaßt. Wenn er im Orden sehr gute Freunde gehabt hat, vielleicht die Familie Panzer, dann ist, unabhängig von ästhetischer Wahrnehmung, ein betrübtes und verbittertes Kopfnicken als Reaktion auf dieses Wortspiel denkbar. Würde eine solche Aufnahme in den Bereich der Verhaltensweisen passen, die, etwa gleichzeitig mit Gellerts 'Weinerlicher Komödie', von bürgerlichen Zirkeln auch in Nürnberg ausgebildet worden sein können? Aber drucken konnte man so etwas, im Unterschied zu den vielen Einzelblättern mit feierlichen Leichcarmina aus dem Blumenorden, in dieser Epoche, noch nicht. Es ist auch nicht vorstellbar, daß es etwa bei der Trauerfeier verlesen worden sei. Dafür ist es am Anfang zu klinisch gewesen und geht hier viel zu unerbaulich weiter:

Ist die Gehülffin denn schon wiederum verlohren?

Dieß munter Kind ist todt? mein teurer Eh Gemahl!

Die selbsten hat geglaubt, Sie sey vor mich gebohren;

Und jeder in der Stadt gebilligt meine Wahl.

Ich täglich Gott gedanckt vor diesen EheGatten;

Mich vor viel tausenden glückselig hab geglaubt.

Und da wir kaum ein Jahr zurück geleget hatten,

Ach kurze, süsse Zeit! So wird Sie mir geraubt?

In Dero Umgang ich nur meine Ruh gefunden,

Und Sie war nie vergnügt ohn meine Gegenwart.

O Himmel! Der Du uns so fest zusamm verbunden,

Nun aber wieder trennst: ist dieses nicht zu hart?


Was ihn besonders niederschlägt, ist das Eintreffen langgehegter Befürchtungen: Der Gefahr ins Auge zu sehen, hat überhaupt nichts geholfen. Das ist freilich kein Beispiel für die Überlegenheit des Geistes, wofür doch Dichtung in der Aufklärungszeit stehen sollte.

Sie furchte allezeit, es wird Ihr Leben kosten,

Wenn Gott sie segnete mit einer LeibesFrucht,

Und dennoch hattest Du auf den verlohrnen Posten

Ihr Leben aus gesezt, was Sie doch nicht gesucht:

Wir liebten stets mit Furcht, um nicht zertrennt zu werden,

Wie Du oft heimgesucht manch sehr vergnügtes Paar.

Ich rufte ängstiglich, Du mehrest die Beschwerden,

Und nimst, was mir zur Hülff von Dir gegeben war.

Sie hatte öfters mir im Scherz, ach Schmerz! erzehlet,

Daß weil kein Arzt mehr sorgt, als der zugleich der Mann,

So hätte Sie sich deswegen mich erwählet.

Sie nahm auch allen Rath auf das genauste an.


Der Schlagreim 'Scherz — Schmerz' ist nicht bloß schlagend 'witzig' als Ergebnis der Fähigkeit, Entferntes im Ausdruck zu koppeln, sondern psychologisch motiviert: Er kann an das Scherzhafte der Aussage nur mit Schmerzen denken, nachdem sich die darin enthaltene Befürchtung bewahrheitet hat.

Ists möglich? muß ich auch an diese Wort gedencken,

Ohn daß ich gleich vor Leid mein elend Leben schließ?

Dieß wird Zeit lebens mich gewiß am meisten kränken,

Kein Wunder, wenn ich gleich die Heilungskunst verließ.

Mein Gott! wie hättest Du mich härter können schlagen!

Du stehst in meinem Amt am wenigsten mir bey,

Da es mich selbst betrift ; nun muß der Arzt gar klagen,

Daß er von Deiner Hülff und Rath verlassen sey.


Was ihn "am meisten kränken wird", ist ohne sein Berufsleben nicht zu fassen, geht nicht nur den trauernden Menschen an: Der Arzt wird zuschanden. Er verliert zunächst vor sich selbst die Glaubwürdigkeit. Das kann handfeste Rückschläge beruflicher Art mit sich bringen. Der Bürgerliche sieht seine gesamte Existenz mit dem Beruf verknüpft: Kehrseite der Intimität, die sich hier so überraschend unmittelbar ausspricht.

Ach! warum gabst Du Ihr so hohe GeistesGaben?

Und Ihren schönen Leib so viel Geschicklichkeit?

Wenn Du so zeitlich Sie schon wolltest bey Dir haben.

Allein was frag ich viel, Du schweigst zu solcher Zeit.


Wittwer modelliert sich deutlich nach Hiob. Anders ist das Hadern mit Gott in dieser Zeit nicht denkbar, außer, es sagt sich einer gänzlich von der Religion los. So weit geht Wittwer nicht. Doch erscheint es um so weniger wahrscheinlich, daß diese Verse zu kirchlich vermitteltem Traueranlaß mitgeteilt worden sein könnten.

Dieß aber hindert nicht, mir schmerzlich vorzustellen,

Den unersezlichen und tödtlichen Verlust;

So Du mir übrig läst statt Ihr zum SchlaffGesellen,

Biß gar vor Gram und Leid sich hemmet meine Brust.


Auch hier wieder könnte der heutige Leser über die unumwundene Offenheit staunen, mit der Chiron das körperliche Gefühl der Beraubtheit, ja, Körperliches überhaupt, zur Sprache bringt. War das noch naiv oder schon wieder kühn? Entspringt das noch der lutherischen Hochschätzung der ehelichen Liebe, oder bricht sich die Sachlichkeit des Mediziners Bahn? Auf jeden Fall betreibt Chiron nun Introspektion — was Karl Philipp Moritz zwanzig Jahre später 'Erfahrungsseelenkunde' nennen sollte — mit voller Aufmerksamkeit und mit Unterscheidungsvermögen:

Betracht ich mein Gemüth und alle meine Sinnen,

So ist in keinem nichts mehr deutlich abgebildt.

Clarinde nur allein befindet sich darinnen;

An Dero Eigenschaft sich jeder bestens stillt.

Begreiff ich aber denn, daß Sie mir weggenommen,

So nimt die Sehnsucht gleich die matte Seele ein:

Die wünschet und verlangt, nur bald dahin zu kommen,

Wo sie alleine sieht das Ende Ihrer [sic] Pein.

Ich spühre aber auf, um meine Qual zu mehren,

Noch einen andren Trieb, der lehrt das Gegentheil,

Ich sollte nicht mit Fleiß mein Lebens Teil verzehren;

Wer sorgete hernach vor Ihres Zweiges Heil?

Wer könte Ihren Ruhm nach Würden so bezeugen?

Und wer entrisse Sie denn der Vergessenheit?

Die Trauer wär hernach dem Schaden nicht zu gleichen,

Wenn man den Harm und Angst nur fühlte kurze Zeit.


Angemessenheit der Trauer an den Verlust wird nachgemessen. Gefühle erhalten Tauschwert. Daneben steht unvermittelt die hergebrachte Vorstellung, für den Nachruhm sorgen zu müssen — das paßt noch zur Betrübten Pegnesis, wird aber in seinem den bürgerlichen Rahmen überschreitenden Anspruch erst hier auffällig, da Clarinde nun wahrlich noch keinen Ruhm über ihren kleinen Lebenskreis hinaus erworben hatte. Hier übernimmt sich Chiron, und man wird sehen, daß er in seiner weiteren Lebenswirklichkeit diesen Eingebungen — er sagt: 'Trieben' — nicht folgen konnte. Vorerst tut er alles, ihr Bild in den Sinnen wachzuhalten; man muß hervorheben: auch ihr geistig-moralisches Wesen. In den folgenden Zeilen sieht man aber auch den Ursprung eines Entschlusses, der dazu führte, daß Clarindes Kupferstich an Format nur noch hinter Lilidors I. innerhalb des Pegnesenarchivs zurücksteht. Wittwer muß sich gehörig in Unkosten gestürzt haben.

Die Wirklichkeit überbietet empfindsame Konventionen


Leider findet Chiron bald wieder Gelegenheit, den Ausdruck echten Leides zu erneuen; das dritte und letzte Gedicht im schwarzen Heft heißt: Des unglückseligen Chirons verneuerte Klagen bey dem Todte seines einzigen, von seiner unvergesslichen Clarinde, hinterlassenen Sohnes Joachim Wittwers. Den 30. Martii 1747. Aber nicht dadurch allein überbietet das Leben die Dichtung. Die Außerordentlichkeit erneuter Eheschließung und erneuten, völlig parallelen Todesfalls erzwingt eine außerordentliche dichterische Umsetzung. Mit seiner zweiten Frau ging es Chiron nämlich wie mit Clarinde. Und wieder schreibt er eine Trauerode, aber nicht in sein schwarzes Heftchen, obwohl darin Platz gewesen wäre. Erhalten ist ein gefaltetes Einzelblatt. Chirons Trauer-Ode, auf den Tod seiner Ehliebsten Frauen Magdalena Regina Huthin. Jul. 1752. Mag sein, daß er Scheu trug, die sprachlichen Zeugnisse der Trauer um beide Frauen zu nahe beieinander zu wissen. Es kann aber gut sein, daß Wittwer sein Heft bereits weggegeben hatte oder für andere Leser bereithielt, das nun entstehende Gedicht aber wirklich nur mehr für sich schrieb. Es ist in einen Druck des Hochzeitsgedichts eingelegt, der ihm bei seiner Eheschließung mit Clarinde vom Orden verehrt worden war, und gelangte wohl nur als ein Stück persönlichen Nachlasses ins Archiv.


Daß er diesmal nicht in Alexandrinern schreibt, wird also wohl kein Zugeständnis an irgendein Publikum sein. Nach einer mühevoll Schwung holenden Eingangsstrophe fährt er fort:


Und was? ich will, das, was ich fühle, schildern!


Ach! Dies verlangt nicht meine Magdalis.

Mein Geist, verirrt in tausend Schwermuthsbildern

Findt nichts, womit er eines kenntbar wies.

Der sehnsuchtsvoll noch glaubt, Sie zu besitzen,

Mit Angst und Qual nach seiner Liebsten ruft.

Der nur besorgt, Ihr Leben zu beschützen,

Findt nirgens Sie, als in der kühlen Gruft.


Ach! niemand fühlt, das was ich in mir spühre;

Er hört mein Leid mit frostgen Mitleid an.

Und ob sein Herz gleich meine Wehmuth rühre,

So weis ich schon, daß dies nichts lindern kan.

Drum will ich dich still ungestört beweinen;

So wie wir uns still einsam stäts geliebt.

Dein Werth kan ja auf Blättern nicht erscheinen,

Weil selbst der Mund verschweigt was uns betrübt.


Mit vier Hebungen je Zeile wie Haller kommt er nicht aus, er benötigt fünf; aber das Reimschema ist dasselbe, und trotz der vorzugsweise nach der zweiten Hebung eintretenden Zäsur, die an die Mittelzäsur des Alexandriners erinnert, nimmt man den schlankeren Vers als ebenso gehaltvoll wahr, vielleicht sogar, wegen der Jamben, als energischer.


Was übrigens die Rechtfertigung dafür abgeben mag, ständig Vergleiche mit Haller zu ziehen, ist dessen Erwähnung in einer Versepistel, die Resilis um diese Zeit an Melander schrieb. Resilis war das um 1751 aufgenommene Fräulein Jantke, mittlerweile, wie erwähnt, Frau Rosina Helena Panzer und mit Chiron und seinen Gemahlinnen gewiß gut bekannt. Es heißt in ihrem gereimten Brief ganz bescheiden: "Darum erwarte nicht von meiner Hand ein Blat,/ Daß Hallers großen Geist, und Bolaus [Boileaus?] Feuer hat." Haller wurde also damals im Blumenorden gerade wegen der Eigenschaft geschätzt, die ihm half, sein Leid so zu objektivieren, wie es Wittwer nicht konnte und wollte. Ich lese seine Zeilen vielleicht nicht zu Unrecht als eine Antwort auf Hallers noch viel zu inszenierte Klage:


Im dicksten Wald, bei finstern Buchen,

Wo niemand meine Klagen hört,

Will ich dein holdes Bildnis suchen,

Wo niemand mein Gedächtnis stört.

Ich will dich sehen, wie du gingest,

Wie traurig, wann ich Abschied nahm;

Wie zärtlich, wann du mich umfingest;

Wie freudig, wann ich wieder kam.


Auch in des Himmels tiefer Ferne

Will ich im Dunkeln nach dir sehn

Und forschen, weiter als die Sterne,

Die unter deinen Füßen drehn.

[...]


Bezeichnend der Fernrohrblick ins All statt des forschenden Neigens über die Enge und Einmaligkeit eines Menschenlebens. Zwischen diesen beiden Polen wird noch manches Gedicht des Jahrhunderts neue Aspekte entdecken.


Inhaltlich ist Chiron weiter. Seine Verse grenzen — jedenfalls in der zitierten dritten Strophe — so nahe ans Verstummen, wie man es vor der Moderne des 20. Jahrhunderts kaum für möglich halten sollte. Wenn Chiron sein Leid nicht einmal mehr glaubt mündlich, spontan mitteilen zu können, wird er den Pegnesen nicht gerade seine Verse vorgelesen haben. Er hört allerdings nach jener so wenig mitteilsamen dritten Strophe nicht etwa auf, sondern es geht noch zehn schön geschriebene Strophen weiter. Das richtet sich ganz nach innen.


Bald sollst Du Dich mir in Gedanken zeigen,

Wo Dich mein Aug mit Sehnsucht sonst erblickt. [...]


Will sich mein Geist in Kummer ganz versenken,

Wenn mich die Angst zu der Entbindung führt,

So will [ich] stäts an die Gedult gedenken,

Die Du gezeigt u. jedermann gerührt. [...]


Kommt aber mir Dein Tod in die Gedanken,

So weis ich nicht, was mehr gedenken heist.

Selbst die Vernunft verfehlet ihre Schranken,

Wenn nicht der Glaub mich zu den Schöpfer weist. [...]


Stärker als im vorigen Fall verbindet sich das Hadern mit der göttlichen ,Vorsicht', der Vorsehung, mit einer Kalkulation des Wertes von Gefühlen, Einstellungen, ja der ganzen Persönlichkeit, und zwar im Hinblick auf gerechte Entsprechung. (Man möchte ja nicht geradezu 'Preis' dazu sagen, obwohl die besitzsprachlichen Ausdrücke gerade gegen Ende ganz naiv und grob eingesetzt werden.)


War ich nicht werth, dieß Kleinod zu behalten;

Warum hast Du die Herzen so gelenkt?

Ich lies ja stäts nur Deine Vorsicht walten,

Eh ich noch wußt, ob Du Sie mir geschenkt.

Du weist, wie Du mich elend zugerichtet,

Als ich den Riß das erstemal gefühlt;

Was hilft es Dir, da Du auch die zernichtet,

Daß Gram und Leid mir Seel und Leib durchwühlt?


Warum? ... Doch still; wer darf sich unterstehen,

Vor dessen Thron, der alles hat bestimmt,

Mit einem Thon, der fragend, hinzugehen,

Warum er das, was er gegeben, nimmt?

Vielmehr frag Dich, warum Er dir soll lassen,

Ein Herz, dem Er ein besser Leben gönnt?

Du wünscht dies auch; doch lerne Dich erst fassen.

Sein Wort beut dir zu beeden schon die Händ.


Wohlan, zweimal hat Er das Band zerrissen,

Worin ich fand, was Glück im Ehstand hieß.

Dies Glück will ich inskünftige auch missen,

Bis sehnsuchtsvoll ich meine Augen schlies.

Will Gott dabey dem Sohn das Leben schenken,

So soll er stäts ein großer Trost mir seyn.

Mein Fleis soll sich auf die Erziehung lenken.

Vielleicht bringt er mir den Verlust noch ein.


Vogel, der Biograph dieses Sohnes, bezeugt: "Auch sein Vater starb weit früher, als sein Alter und seine Kräfte es erwarten ließen, doch lebte er lange genug, um die vortreffliche Erziehung, welche er seinem Sohne gab, zu vollenden."

Wollte der barocke Dichter nichts auslassen, um der gattungsgemäßen Erwartung seiner Leser genüge zu tun, so findet der empfindsame erst ein Ende, wenn nichts mehr in ihm selbst nach Formung ruft; er wühlt alles in sich auf und verbreitet sich darüber bis zur wohltuenden Erschöpfung. Mit der bloßen Versicherung, es ließe sich ja doch nichts über seine Lage sagen, bestünde er nicht vor seinem Inneren, weil sie, an sich selbst gerichtet, ohne Wirkung, und, an Leser oder Hörer gerichtet, wieder witzig wäre — wie Lessings Ode an die Faulheit, die nicht zustandekommt, weil gerade die Faulheit den erfundenen Verfasser daran hindert "zu singen".

Die bei dem Pegnesen Chiron so überraschend neuartige, weil grundehrliche Behandlung des ihm vom Schicksal aufgedrungenen Themas läßt sich sogar noch — was die Einstellung zum Publikum betrifft — mit Goethes Marienbader Elegie vergleichen. Hätte dieser seinen Text für die Öffentlichkeit der Abfassungszeit bestimmt, so hätte er eine ziemlich komische Figur gemacht. Daß er ihn überhaupt, wenn auch posthum, veröffentlicht hat, liegt an dem Glauben, daß die Menschheit gebessert werde, wenn ihr nichts Menschliches mehr fremd sei — eine Art individualpsychologischer Aufklärung. Chiron muß ähnlich empfunden haben, sonst hätte er seine Blätter nicht so sorgfältig zur Aufbewahrung hergerichtet. Hoffen wir für ihn, daß auch er eine befreundete Seele (wie Goethe seinen Zelter) in seinem verständnisvollen Kind hatte, und daß er ihm sein Werk zuweilen vorlesen konnte. (Philipp Ludwig hat seinem Vater jedenfalls ein Denkmal geschrieben — und leider ebenfalls seinen eigenen, frühverstorbenen Kindern.)

Die Neuartigkeit der Haltung, von der die Rede war, hindert übrigens nicht, daß der nicht ebenso betroffene Leser oder Hörer sich auf die Dauer bei diesen Gedichten langweilt, denn das Aufbauen des Gefühls aus Einzelempfindungen und Reflexionen ergeht sich in lauter altbekannten Formeln — so wenig individuell ist das Intimste an einem durchschnittlichen Menschen! Dennoch wäre die Veröffentlichung dieser Texte damals von bedeutender zeitgemäßer Wirkung gewesen, weil die Anteilnahme am Allgemein-Menschlichen noch stärker war. Jedermann, der aus seinen persönlichen Verhältnissen heraus oder aufgrund der sich ausbreitenden literarischen Mode empfindsam war, konnte eine solche Wirkung hervorrufen und damit die Gemeinde der zarten Seelen vermehren.

Der heutige Leser aber kann Chirons frühe Zugehörigkeit zur empfindsamen Literaturperiode als ein gutes Zeichen für die innere Verfassung des Ordens und als eine Entschuldigung für sein schwächliches äußeres Bild zu jener Zeit auffassen.


Rehberger-Uranio heiratete am 4. 8. 1762, und das Gratulationsgedicht dazu schrieb Schmidbauer-Hodevon. Es sticht sehr ab von der rhetorischen, engagierten Sprechweise, die in Melanders Geiste von Reichel-Eusebius zu erwarten gewesen wäre. (Dieser war 1760, nach dem Tode Schönlebens, zunächst einmal Schriftführer geworden und konnte wohl als solcher nach 1765 den inoffiziellen Mittelpunkt des Ordens darstellen, um so mehr, als damals das Amt des Schriftführers als das zweitwichtigste im Orden galt.) Eine literarische Richtung, die sich als aufklärerisch verstand, sah im Vergleich zu den empfindsamen Privat- und Intimdichtungen nun erst recht karg aus.


Plattheit als Gegengift zum Bombast



Georg Andreas Will hatte in seiner Lyrik-Vorlesung, die er 1758 in Altdorf hielt, im Anschluß an Gottsched gefordert, ein jeder Vers müsse mit einem Sinnschritt übereinkommen. Das ist ein Rückschritt in die Frühzeit der mittelhochdeutschen Prosodik! Man wird gleich sehen, was dabei herauskommt; folgende Strophen sind typisch für den knöchernen Belehrungston der Gottsched-Epigonen:


Die Seele der Gesellschaft ist

In der Vereinigung zu finden,

Aus welcher die Theilnehmung fliest,

Zu der die Glieder sich verbinden;

Die sich in Freud und Leid bewähret,

Und überall die Pflicht bestimt,

Die an der Schickung Antheil nimt,

Und unsre Regungen erkläret. [...]


Das hier gewählte heischre Rohr,

Das unsre Freude Dir ausdrücket,

Bringt nicht so laute Töne vor,

Wie es dem Deinigen geglücket;

Doch mindert dieses Unvermögen

Die Gröse unsrer Freude nicht,

Die wir nach der Gesellschaftspflicht

Dir dadurch suchen vorzulegen.

Dein uns allzeit geneigter Sinn

Nimmt für die That den guten Willen

Zum Abtrag der Pflichtleistung hin, [...]


  — ohe iam satis est. Rief denn niemand beim Verlesen dieses antilyrischen Machwerks "Aufhören!"? Für würdig ohne Bombast und daher modern werden die Zuhörer es gehalten haben. Schuld an der peinlichen Wirkung auf Heutige ist das üble 'Besitzdenken': Gefühle werden im Namen der Gesellschaft — und zwar der menschlichen überhaupt, nicht nur des Ordens — gegeneinander pflichtschuldigst verrechnet.


Das ist der poetische Tiefpunkt. Hieran überrascht nur eines: daß in einer gewerblich orientierten Stadt wie Nürnberg diese Kehrseite der Wolffianischen Philosophie nicht eher das öffentliche Bewußtsein bestimmte. Man ist den eingefleischten Lutheranern ja geradezu dankbar für die Verzögerung. (Sieht jemand die Parallele zur ehemaligen DDR?) Schmidbauer konnte nämlich auch anders, wenn er in einem Trauergedicht mehr auf die christliche Überlieferung Bezug nahm. Als er 1774 für Reichel den poetischen Nachruf zu verfassen hatte, war er wohl auch erfahrener, aber vor allem der Gehalt erlaubte ihm kein so abstraktes Umspringen mit Hauptwörtern mehr:


[...] So oft wir hier die Hütten sehen,

Die unser Irrhain in sich schliest,

Soll unser Denken dahin gehen,

Wo unser Freund verherrlicht ist,

Und vor dem Stuhl des Lammes stehet;

Da ists gut seyn, wo wir Gott schauen,

Da wollen wir uns Hütten bauen,

Wenn unsre Zeit zu Ende geht. [...]


Und doch wird aus Hodevon kein halbwegs geschickter Poet: Die Tonbeugungen kann er immer noch nicht lassen, am auffälligsten bei "gut sein".


Da aus der Sammelveröffentlichung Schönlebens nichts geworden ist, hat man andauernd auf die Einzeldrucke von Trauergedichten aus dem Archiv zurückzugreifen; so entsteht leider der Eindruck, daß der Tod zu dieser Zeit längeren und tieferen Schatten als sonst über den Orden werfe. (Anderswo schreiben die Dichter vorzugsweise anakreontische Tändeleien, harmlose Liebes- und Trinkgedichte.) Am 1. 7. 1772 wird der wackere Leucorinus, der Pfarrer und Schulmeister von Poppenreuth, Christoph Sigmund Löhner, zu Grabe getragen und gebührend beklagt. Cramer-Irenander gibt überraschenderweise im Titel seines Gedichtes an, den Leucorinus "beklagte die deutsche Gesellschaft in Nürnberg"! Während die regelmäßige Ordenstätigkeit zwischen Lilidor II. und Irenäus I. neun Jahre lang ruhte oder noch mehr im stillen vor sich ging als sonst, muß es also Bestrebungen gegeben haben, im Programm Anschluß an die auswärtigen 'Deutschen Gesellschaften' zu finden.


Ein neuer, sehr alt gemeinter Ton



Der nationale Patriotismus löst den kleinstaatlichen Vaterlandsgedanken ab, man schwärmt von den alten germanischen (und keltischen) Barden, betrachtet die Deutschen (etymologisch falsch) als "Söhne des Teut", des keltisch-germanischen Gottes Ziu, man entwickelt ein geschärftes soziales Bewußtsein. (Goethe schreibt um diese Zeit seinen recht gesellschaftskritischen Götz von Berlichingen.) Alles dies konnte den Obrigkeiten nicht gerade recht sein. Irenander hebt genau das an Löhner hervor — darin Philodectes ähnlich —, was den guten Bürgerlichen ausmacht. (Und das ist nicht genau dasselbe, was den braven Bürger ausmacht.) Insofern hat sogar dieses Trauergedicht eine leicht polemische Spitze, die der Zensur allerdings zu unerheblich zum Einschreiten erscheinen konnte:


[...] Sagt es, ihr Seine frommen Hörer,

Wem diente Sorge, Müh und Wachsamkeit?

Nur Reichen? Nein; der Treue Lehrer

War iedermann zu gleichem Dienst bereit. [...]


Hierin spricht sich bereits wieder eine neue Denkart aus, die nicht mehr mit den Begriffen 'empfindsam' oder 'aufklärerisch' allein zu beschreiben ist, obwohl sie zunächst keine eigene Sprache spricht. Es ist ja oft so, daß vertraute Wörter und die Begriffe, die man sich damit gemacht hat, einfach umgewidmet werden, und die neue Verständigungs-Grundlage, der neue Diskurs, ist da, bevor noch alle geistigen Auswirkungen zu übersehen sind, die das stiftet.


Beinahe hätte so auch der Name des Blumenordens ohne große Ankündigung sein Ende in einer Standardbezeichnung für eine weitere der damals beliebten Lese- bzw. Redegesellschaften gefunden — und die Nürnberger hätten den Traditionsbruch kaum bemerkt, vielleicht für längst überfällig gehalten. Es wird noch zu sehen sein, wie ausgerechnet Cramer durch seine patriotische Wohltätigkeit dazu beitrug, daß dies nicht geschah.

Eine Anlehnung des Blumenordens an eine damals in Altdorf bestehende 'deutsche Gesellschaft' wird überdies durch zwei Hinweise wahrscheinlich gemacht: Über Konrad Meierlein, zuletzt Pfarrer von Kraftshof, heißt es im Denkmal der Freundschaft , das Johann Friedrich Frank über ihn und Lugenheim verfaßt hat, "[...] seine guten Dichtergaben, die ihm [!] schon ehemals der deutschen Gesellschaft zu Altorf, deren Mitglied er war, werth gemacht hatten, hatten auch für uns so viel anziehendes, daß wir seinen Beytritt zum Blumenorden für sehr wünschenswert hielten. Mit Vergnügen wurde er im Jahre 1777. unter die Mitglieder desselben aufgenommen [...]". Außerdem gibt es eine Biographie des Pfarrers Erhard Christoph Bezzel aus der Feder seines Neffen, M. Johann Gabriel Bezzel (Nürnberg, im November 1801), in der es auf S. 8 heißt: "Schon im Jahr 1757 den 10ten August wurde er in die vom Hrn. Prof. Will gestiftete Altdorfische teutsche Gesellschaft als ausserordentliches Ehrenmitglied aufgenommen [...] und im Jahr 1776 den 23sten Mai wurde er nebst seiner Gattin und seinem jüngsten Bruder, meinem Vater, ein Mitglied unsers Ordens. Er wählte sich den Ordensnamen Noricus."

Von Altdorf her kann es sogar Übernahmebestrebungen gegeben haben, zumal schon 1761 Gottsched an Will geschrieben hatte, da die Pegnesische Schäfergesellschaft ihrem Ende ziemlich nahe zu sein scheine, solle doch Wills Deutsche Gesellschaft sich den Irrhain aneignen! Will und seine Freunde sahen vielleicht bloß nicht viel Sinn darin, jeweils den Weg nach Nürnberg auf sich zu nehmen, um im Kreise von Liebhabern der Dichtung zu sein; sie trugen ihre Mitgliedschaft im Blumenorden wie ein Abzeichen und arbeiteten anderswo zeitgemäßer. Das mußte den verständigeren Pegnesen ein Hinweis sein. Mit einer bloßen Umbenennung war es jedoch nicht getan.