Teil II: Der Blumenorden während der Zeit der deutschen Frühaufklärung

An gewissen poetischen Texten der Zeit um 1720 sind im vorigen Kapitel Spuren einer neuen Geistesart aufgefunden worden, die sich in den Zusammenhang des weltanschaulichen Wandels jener Zeit gut einfügen. Es ist nun nötig, geschichtliche Zeugnisse solcher Beziehungen und Tätigkeiten der Ordensmitglieder aufzuspüren, die jene Einordnung in die frühaufklärerische Phase der deutschen Geistesgeschichte bestätigen. Hierfür ist HERDEGENS Historische Nachricht von 1744 die hauptsächlichste Quelle, da der Zeitraum von 1716 bis 1788 sonst nicht gut dokumentiert ist; in zweiter Linie stehen noch Briefwechsel zur Verfügung, die im Ordensarchiv aufbewahrt sind.


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Einer der ersten Belege dafür, daß Pegnesen sich nicht vor Beziehungen zu umstrittenen Autoren scheuten, ist der Versuch des DURANDO (JOHANN JACOB HARTMANN), auf seiner Studienreise nach Holland bei dem exilierten Hugenotten PIERRE BAYLE vorgelassen zu werden. Dieser bedeutende französische Aufklärer arbeitete in seinem holländischen Exil an der Erweiterung seines Dictionnaire historique et critique (1695-97), einer von Skeptizismus der pessimistischen Art (Pyrrhonismus) durchdrungenen Hinterfragung alles überlieferten Wissens. Ob sich BAYLE verleugnen ließ oder wirklich nicht anwesend war, können wir nicht sagen, doch der Versuch HARTMANNs läßt jedenfalls darauf schließen, daß er BAYLEs Haupttendenz kannte und nicht ablehnte. Er wurde 1713, im Jahr seiner Aufnahme in den Orden, Bibliothekar der zu St. Lorenz gehörigen Fenitzerschen Bibliothek und starb 1728.


Zu Lebzeiten des Präses LILIDOR I. richteten sich die Wünsche nach Bekanntschaft mit auswärtigen Gelehrten allerdings noch vorwiegend auf solche Literaten, die noch innerhalb der "galanten" Epoche eine Rolle spielten. HERDEGEN-AMARANTES selbst und JOHANN WILHELM GOLLING (CLEANDER II .) trafen in Hamburg zu unterschiedlichen Zeiten mit ERDMANN NEUMEISTER, MARTIN RICHEY (der auch oft als musterhaft wegen seiner reinen Schreibart gelobt wurde) und JOHANN HÜBNER zusammen. HERDEGEN fühlte sich allerdings bei einem Aufenthalt in Perleberg auch veranlaßt, das Grab des Pietisten GOTTFRIED ARNOLD aufzusuchen. Dieser hatte mit seiner Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie jedoch — ob er es beabsichtigt hatte oder nicht — dazu beigetragen, daß man neuerdings ein Christentum ohne Kirche für möglich hielt. Seine Hauptthese war gewesen, das wahre religiöse Leben habe sich immer gegen Verfolgungen durch die Amtskirche wehren müssen. Dieses Argument sollte den Pietisten zur Verteidigung gegen die lutherische Orthodoxie dienen, klang aber auch manchem Freidenker vernünftig. Eine Übergangserscheinung.


Der erwähnte CLEANDER II. besuchte außerdem in Hamburg noch den Naturdichter BROCKES, der pantheistischen Tendenzen vorarbeitete mit seinem Lob des Schöpfers in der Anschauung der Schöpfung. "Physikotheologie" kann diese Anschauung genannt werden, und unter diesem Namen ist es eine altehrwürdige christliche Geistesrichtung, die schon mit den gnostischen Tendenzen des 2. Jahrhunderts zusammenhing. Wie die Dinge aber um 1720 lagen, ordnete sich vieles Altbekannte um einen neuen Kern, und der strebte von allem Kirchlichen fort bis — im Extremfall — zum Atheismus.


In Holland besuchte GOLLING den Philosophen HEMSTERHUIS und in Basel JOHANN BERNOULLI aus der berühmten Mathematikerfamilie. Sein eigenes Forschungsgebiet war das Universalienproblem, also die Frage, inwieweit gewisse Grundbegriffe gebildet werden könnten, anhand derer sich alle Erscheinungen der Welt einteilen ließen.


Man sieht schon -- es hätte für eine wöchentliche Gelehrtenzusammenkunft nach den Vorstellungen FÜRERs eine Menge Anlässe zu guten Erörterungen unter gescheiten Leuten gegeben. FÜRER jedoch war je länger desto weniger imstande, den Kristallisationspunkt derartiger Tätigkeit abzugeben. Er hatte mit seinen Ämtern so viel zu tun, daß er sich oft über ein Jahr lang nicht um den Blumenorden kümmern konnte. Als er 1732 im Alter von fast 69 Jahren starb, hatte er immerhin seine Nachfolge gut vorbereitet, denn der neue Präses FLORANDO (Pfarrer JOACHIM NEGELEIN) wurde noch im gleichen Jahr gewählt. Die Bedeutung des Ordens beruhte aber nurmehr auf der Bedeutung einzelner Mitglieder, die diese sich außerhalb des eigentlichen Ordenslebens errungen hatten, und nicht mehr auf der gemeinschaftlichen Tätigkeit des Ordens. So verhielt es sich eigentlich zu den meisten Zeiten der Ordensgeschichte, nachdem man aufgehört hatte, gemeinsam "Schäfereien" zu dichten. (Von den Ausnahmen wird noch die Rede sein.) Auch HERDEGENs kultur- und geistesgeschichtlich so bedeutsame Festschrift, aus der hier ständig zitiert wird, ist im wesentlichen als Einzelleistung zu sehen. Man war um 1740 zwar fähig, aber kaum in der Lage und zudem meistens nicht willens, sich den weltanschaulichen Herausforderungen einer neuen Zeit zu stellen.



Einwirkungen auf den Blumenorden von auswärts

ROSAMOR — das ist SIGMUND JACOB HOLZSCHUHER, geboren 1710 — studierte 1731/32 in Leipzig, das sich damals gerade zu einer Hochburg der Aufklärungsphilosophie entwickelt hatte. Er verschaffte sich Einblick in "des Welt-berühmten Philosophen unserer Zeit, Herrn Wolffens Anfangs-Gründe der Mathematischen Wissenschaften". Auch hätte er genau der Generation angehört, die sich als erste mithilfe einer philosophischen Methode über den Streit der Konfessionen erhob, und zwar nicht individuell im Gelehrtenstübchen, sondern mit Breitenwirkung. Leider war dem jungen Herrn keine lange Wirkung mehr beschieden, und er zog es vor, todkrank geworden und nach Hause zurückgekehrt, im Frieden mit seiner ererbten religiösen Weltanschauung zu sterben, 1740.

Es gab frühere Beispiele der Verbreitung wolffianischen Gedankenguts im Nürnberger Gebiet, wenn auch außerhalb des Ordens. Da ein jedes Landeskind verpflichtet war, wenn es studieren wollte, wenigstens ein Jahr auf der eigenen Hochschule in Altdorf zuzubringen, sind Kenntnisse aus zweiter Hand bei keinem auszuschließen, sobald es in Altdorf wolffianische Professoren gab. Ein solcher war MICHAEL KELSCH, der seit 1720 Philosophie und von 1731 bis 1742 Mathematik und Physik las. Er regte zum Beispiel einen jungen Theologen namens JOHANN MAYER an, nach Halle zu gehen und WOLFF zu hören, wie GEORG ANDREAS WILL, selber ein Wolffianer in Altdorf, später berichtete. So gelangte der rationalistische, tugend- und fortschrittsgläubige Predigtstil auch auf Nürnberger Kanzeln.

Ein weiterer Anknüpfungspunkt des Ordens an neuere Entwicklungstendenzen ist gegeben in der Person des IRENÄUS (JOHANN AUGUSTIN DIETELMAIR, geboren 1717). Er ging 1737 nach Halle und hörte dort Vorlesungen des ALEXANDER GOTTLIEB BAUMGARTEN, also desjenigen Philosophen, der auf der Grundlage des Wolffianischen Systems die Ästhetik als wissenschaftliche Disziplin begründete. Grund genug, auf DIETELMAIRs Wirken im Orden neugierig zu sein. Daß er sich zu einer Auffassung geoffenbarter Religion hingeneigt haben könnte, die auch nach den außerkirchlichen oder gar natürlich herleitbaren Quellen solcher Glaubenswahrheiten fragt, ist vielleicht belegbar anhand seines Werkes Dissertatio Epist.[olaria?] de Religione Christiana Philosophiae nomine a veteribus compellata , anscheinend einer Abhandlung in Briefform über die christliche Religion, soweit sie sich unter der Bezeichnung "Philosophie" schon bei den "Alten", den antiken Schriftstellern, auffinden läßt. DIETELMAIR wurde 1741 aufgenommen. Von 1774 bis zu seinem Tode 1785 war er Präses.

Ein tätiger Mitarbeiter am Umbau des Zeitgeistes war zweifelsohne FERRANDO III . (JOHANN ANDREAS FABRICIUS, geboren 1696). Er war während seiner Leipziger Studienzeit zunächst in das von AUGUST HERMANN FRANCKE gegründete "Collegium philo-biblicum" eingetreten, einen pietistischen Bibel-Lesekreis. Schon dadurch bewies er, daß er gesonnen war, gegen den Strom zu schwimmen, denn es war noch nicht allzulange her, daß FRANCKE auf Betreiben der Orthodoxen die Stadt verlassen hatte müssen. 1715 bis 1718 war er außerdem Mitglied in der Redner-Gesellschaft, ähnelte nach Anschauungen und Neigungen also durchaus den zeitgenössischen Pegnesen. Seine im Jahre 1722 abgehaltene Disputation trägt aber schon den durch und durch rationalistischen Titel: De summa hominis in hac vita felicitate — "Über die höchste dem Menschen in diesem Leben erreichbare Glückseligkeit"! Es ist selbstverständlich, daß eine solche diesseitsbezogene Erörterung damals die Kirche im Dorf und den lieben Gott einen guten Mann sein ließ. Es wird an Beteuerungen, die höchste Glückseligkeit überhaupt liege in der ewigen Anschauung Gottes im Jenseits, nicht gefehlt haben. Aber eine neue Weltanschauung bricht sich ja nur selten durch schroffe Ablehnung der bestehenden ihre Bahn. Eine Verlagerung der Thematik, vielleicht eine Betonung einer bisher unterschätzten Denkweise ist zunächst das einzige, was davon zu spüren ist. CHRISTIAN WOLFF selbst war überzeugt, endlich einen Weg gefunden zu haben, wie man unter Anwendung von Verstand und Vernunft ein überzeugter Christ sein könne. FABRICIUS aber gerät nun unter den Einfluß derjenigen, die auf mathematische Weise aus bestimmten Grundbegriffen alle Erscheinungen der Welt in ihrem sinnvollen Zueinander ableiten wollen: möglicherweise unter den Einfluß GOTTSCHEDs, des bedeutendsten Verbreiters der Wolffianischen Lehre, denn 1724 wird er Mitglied in der Leipziger "Teutschen Gesellschaft". Diese war eben dabei, sich aus einer barocken Sprachgesellschaft unter dem Einfluß JOHANN FRIEDRICH MAYs und des jungen GOTTSCHED zu einer aufklärerischen Normierungskommission für deutschen Sprachgebrauch zu entwickeln. Genau das hätte man in Nürnberg zu dieser Zeit auch tun können. Man sah aber nicht -- oder wenn man es sah, dann nur unter endlosen Bedenklichkeiten -- daß ein solcher Kreis gerade dazu den Sprachgebrauch beeinflussen werde, um das Denken der Zeitgenossen auf bestimmte Bahnen zu lenken.

FABRICIUS, der Auswärtige, veröffentlichte schon 1724 eine Philosophische Redekunst. Es war drei Jahre, nachdem CHRISTIAN WOLFF von seinem Lehrstuhl in Halle vertrieben worden war — diesmal auf Betreiben der Pietisten! Das focht FABRICIUS nicht mehr an. Sein 1728 erschienenes Buch Vernünftige Gedanken von der moralischen Erkänntnis der menschlichen Gemüther könnte, was den Titel (und wohl auch die Methode) betrifft, genausogut von WOLFF sein; dieser fing seine sämtlichen Schriften mit "Vernünftige Gedanken..." an. 1733 wagte sich FABRICIUS auf das Gebiet seines Meisters und schrieb eine Logik. In die Sprachpflege fällt eine Schrift Specimen orthographiae Teutonicae demonstratae , die als Vorlesungsprogramm erschienen ist. Man machte sich jetzt allen Ernstes an die landesweite Regelung der Rechtschreibung, konnte jedoch die gewaltigen Stoffmengen vorerst nur an Beispielen, als "specimen", behandeln. (Daß der Titel lateinisch war, zeigt, wie das vielerorts noch gültige Verbot griff, die deutsche Sprache in der Wissenschaft zu gebrauchen. WOLFF fing dagegen um diese Zeit an, seine früheren Werke, in denen er eine deutsche Wissenschaftssprache erst eigentlich geschaffen hatte, zum Gebrauch des Auslandes ins Lateinische zu übersetzen. Diejenigen, die deutsche Vorlesungen für skandalöse Unbildung hielten, wollten ja auch im Grunde nur gute Europäer sein. Bloß schrieb man anderswo schon seit Jahrhunderten wissenschaftliche Werke auch in der Landessprache.) 1741 lehnte FABRICIUS — er war unterdessen Rektor eines Gymnasiums in Braunschweig geworden — eine Berufung nach Gießen zum Professor der Redekunst und Poesie ab. Die Stelle wäre vermutlich mit geringeren Einkünften verbunden gewesen. Nach Altdorf hätte er unter diesem Gesichtspunkt erst recht nicht gehen dürfen. Aber um Aufnahme in den Pegnesischen Blumenorden suchte er nach, 1743. Es muß Pegnesen gegeben haben, die ihm als wahre Zeitgenossen und gelehrte Leute erschienen. Vielleicht wollte er auch einen weiteren Stützpunkt zur Verbreitung des "Lichtes der Vernunft" auftun. Er war aber nie in Nürnberg.


Anno 1744 feierte man also das hundertjährige Bestehen des Ordens. Im Irrhain wurden die morsch gewordenen Bogengänge wiederhergestellt; Versammlungen fanden dort allerdings keine mehr statt. Seltsamerweise behinderte gerade die steigende Berühmtheit dieses Ortes seine ursprüngliche Nutzung, denn er wurde von vielen Fremden besucht.

Pfarrer Joachim Negelein, der 6. Präses


Retardierende Momente

In Schuber CVIII ist im Archiv die eigenhändige Lebensbeschreibung der Tochter des AMARANTES erhalten. Sie war am 6. 1. 1725 geboren, lernte Schreiben und Rechnen beim Vater, Latein von einem Hauslehrer, und erhielt auch Unterricht in Zeichnen, Malen und Klavierspiel. Während der Jubiläumsfeier am 16. 10. 1744 wurde sie zusammen mit des Präses eigener Tochter von Professor SCHWARZ und einem der GOLLINGs zur Tafel geführt. Offenbar in galanter Laune -- wenn nicht in Weinlaune -- redeten die Herren dem Präses zu, die beiden Damen doch in den Orden aufzunehmen, doch NEGELEIN stellte sich stur, "da anjetzo kein Frauenzimmer in den [!] Orden wäre." Sie gibt an, daß sie später von DIETELMAIR unter dem Namen HIAZYNTHE aufgenommen worden sei. Seltsam ist nur, daß im Ordensbuch (Archiv Nr. LXXXIV) noch von des AMARANTES Hand eine Eintragung vorliegt, daß Jungfer NEGELEIN gerade am Tag des Jubelfestes unter dem Namen CLARINDE ein Mitglied geworden sei.

Ein Herr Justizrat J. PH. MACHENAU schickte dem Blumenorden 1747 aus Halberstadt ein Werk mit dem Titel: Der Wiederspruch des Menschen. ODE nach Anleitung des Französischen. Es handelt sich um eines der moralischen Lehrgedichte auf philosophischer, aber keineswegs unchristlicher Grundlage, wie sie damals zur weltanschaulichen Selbst-Vergewisserung von gedankenvollen jungen Leuten verfaßt wurden. (Auch WIELAND schrieb zehn Jahre später ein solches, seinen Anti-Lucrez.) Damit also wollte sich Herr MACHENAU dem Blumenorden als Mitglied empfehlen. Er traute sich was. Er erreichte auch sein Ziel, nur wird den Pegnesen bei der Lektüre nicht zu wohl gewesen sein; sie nahmen den Auswärtigen wohl vor allem deswegen auf, um weiterhin überregionale Kontakte zu pflegen, solange nicht zu befürchten war, daß er in Nürnberg selbst für philosophische Extravaganzen sorgte. Nun sollte er Hirtennamen, Blume und Leitspruch wählen. Er war unbekannt genug mit Ordensdingen, um sich in seinem Brief vom 20. 5. 1747 zu seinem Namen PALLANTES die weiße Lilie zu wünschen nebst der Devise, stets der Natur gemäß zu leben. Im eigenhändigen Brief NEGELEINs vom 16. 8. des Jahres wird er sehr höflich, aber bestimmt "erinnert", daß die Lilie für die FÜRERs reserviert sei. Außerdem verweist der Präses auf eine Besprechung vom 31. 7., in der die Mitglieder seine Devise beanstandet hatten, und MACHENAU wird aufgefordert, sie dahingehend abzuändern, er wolle "stets Gottes Rath gemäß" leben.


Leere Geschäftigkeit

Als nacheinander innerhalb eines Jahres Präses NEGELEIN und sein berühmter Schriftführer AMARANTES verstorben waren, hätte es, wie für die Musikgeschichte nach dem im gleichen Jahr erfolgten Tode J. S. BACHs, im Orden einen Ruck geben müssen. Als aussichtsreiche Nachfolger im Vorsteheramt zog man aber lediglich zwei Herren in Betracht, die nach damaligen Verhältnissen selbst schon uralte Leute waren: Anciennität und Stand gingen der Überlegung vor, was der Präses zu leisten habe. Der Vornehmste unter den älteren Mitgliedern des Ordens war aber Herr Losungrat VON SCHEURL, genannt FLORINDO; derjenige, der schon am längsten Mitglied war, Professor SCHWARZ (MELANDER). Als das rührigste Mitglied dieser Jahre darf man sich ALCANDER, Herrn CARL SIGMUND ALEXANDER VON HOLZSCHUHER, vorstellen. Dieser schrieb am 16. Mai 1750 an MELANDER, daß FLORINDO in Gegenwart des Herrn ANTON ULRICH VON FÜRER die Angelegenheit mit ihm durchgesprochen und wegen seiner amtlichen Belastung zugunsten SCHWARZENs verzichtet habe. Offenbar fühlte man sich dem Sohne des unvergeßlichen LILIDOR gegenüber zu gewisser Rücksichtnahme verpflichtet, auch wenn er selber noch zu jung erschien für das Amt.

Am 19. 5. 1750 schrieb SCHWARZ einen Antwortbrief, in dem er sich noch gehörig vor dem Annehmen zierte. Der Briefstil dieser Jahre ist dazu angetan, im nachhinein die vier Jahrzehnte zuvor geäußerten Befürchtungen POLIANDERs zu bestätigen. MELANDER gebraucht dafür selbst die Bezeichnung "in den höflichsten Worten". Er hatte Leipzig zu früh verlassen, um vom "angenehmen Pleiß-Athen" mehr als die galante Periode mitbekommen zu haben, und er genoß als "Redner" — das heißt wohl in erster Linie, als Rhetorik-Fachmann — einen sehr guten Ruf. Dafür muß man wohl etwas tun. Zehn Jahre älter als JOHANN SEBASTIAN BACH, gehörte er zu der letzten Generation, die man in ihrem Streben noch dem siebzehnten Jahrhundert zuordnen kann.

Gleich nach Erhalt des Briefes, noch am selben Tag, ließ ALCANDER-HOLZSCHUHER ein Rundschreiben an die Mitglieder abgehen, in dem er sich auf die Tatsache beruft, daß OMEIS trotz seines Altdorfer Wohnsitzes ebenfalls Präses gewesen sei. Außerdem verfüge SCHWARZ bei seinen 76 Jahren noch über "genugsame Lebhaftigkeit". Der Orden "mögte auch künftighin dadurch bey denen Ausländern in besserem Ruff u. Ansehen stehen, wann man verfahren würde, wie Er den großen Redner, Schwarzen, zu Sein. Haupt erkiest u. erwählet habe", und es würden neue Mitglieder beitreten. Für das Amt des Schriftführers schlug er CALOVIUS (Pfarrer SCHÖNLEBEN) vor.


Acht Pegnesen setzten auf das Blatt zustimmende Bemerkungen. Die aus meiner Sicht naheliegendste Lösung vertrat Pfarrer LÖHNER aus Poppenreuth in einem gesonderten Schreiben vom 22. 5.: HOLZSCHUHER selbst wäre ein würdiges Haupt. Das schwächt er allerdings durch den Zusatz zu einem bloßen Kompliment ab, daß er ansonsten dem Vorschlag beipflichte, jedoch mit dem Bedenken, der Präses sollte vielleicht doch nicht so weit von Nürnberg entfernt sein. Ebenso äußerte sich DIETELMAIR, selber in Altdorf Professor, in einem gleich datierten Schreiben. Und über die Frage 'Nimmt Melander jetzt an, nimmt er nicht an' geht der erhaltene Briefwechsel noch in acht Stücken hin und her.


24. 8., ALCANDER an CALOVIUS mit der Bitte, ihm in folgenden Ordensangelegenheiten zur Hand zu gehen: Eine Inventur des Ordensarchives soll angestellt werden. Von der Wahl des Präses müßte das Scholarchat benachrichtigt werden, aber er weiß nicht, in welcher Form. (Man war in Nürnberg nunmehr soweit, daß Aktivitäten in Formalia schier erstickten.) Die schriftlichen Nachrichten, die der Orden über den Irrhain besitzt, möchten gesammelt werden. Der fällige gemeinsame Besuch des Irrhains soll auf den Herbst verschoben werden. Zwei neue Mitglieder stehen zur Aufnahme an, und auch hier bittet HOLZSCHUHER um Anleitung, wie es mit den Formalia zu halten sei.


Am 30. 9. 1750 schreibt SCHWARZ seinen Dank an SCHÖNLEBEN für das Feiergedicht zu seinem Amtsantritt und bedankt sich auch bei ihm (nicht etwa bei HOLZSCHUHER) dafür, daß er die Ordensgeschäfte besorgt habe, die er von Altdorf aus nicht selbst in die Hand nehmen kann. (Die Nürnberger Gesellschafter bereiten sich nämlich darauf vor, daß er zu Allerheiligen einmal in die Stadt kommt und einer Versammlung vorsitzt.) In ebendiesem Brief wird das Amt des Schriftführers als das oberste unter den Ordensräten bezeichnet. Das las man in den beiden ersten Satzungen anders. Wahrscheinlich hatte die Einzigartigkeit der Leistung HERDEGENs dem Amt das besondere Ansehen verschafft. Ferner freut es den Präses, daß die Gesellschaft "mit so guten Mitgliedern vermehrt werden soll. Bey der Frau Dr. Dittelmeierin [sic; er hätte den Namen seines Kollegen bis dahin eigentlich mitbekommen können] habe zwar ohnlängst schon einen Antrag gethan; die Resolution aber ist noch zweifelhaft; wie auch bey der Mademoiselle Jantkin, welche sonst auch eine Liebhaberin der Poesie ist; mir aber nur indeßen einige zweifelhafte Zeilen zurück gegeben." Dies ist wieder ein Sachverhalt unter der Rubrik "Frauen im Blumenorden"; und die Glosse dazu ist MELANDERs Vorschlag, wenn die Damen einträten, könnten sie sich ja aus Ersparnisgründen die gewählten Blumen selber auf ihre Ordensbänder sticken.


Die Versammlung rückte näher, und Verdrießlichkeiten, die dabei zu besprechen sein würden, machten sich bemerkbar. In Briefen vom 2. und 3. Oktober erwähnte ALCANDER gewisse Auseinandersetzungen mit einer Frau RIEGEL. Es ging um dreihundert Restexemplare des "Amarantes", der Festschrift von 1744. Die Witwe des Druckers, "das Ehren-Stück, die Rieglin", wollte darauf nicht sitzen bleiben und rannte den Pegnesen die Türen ein, um sie zur Abnahme um einen günstigen Preis zu bewegen. Hatte sie es vielleicht doch nicht so nötig, wie ihre Lage es in den damaligen Verhältnissen wahrscheinlich macht, oder konnten die Pegnesen ihrerseits nicht großzügig sein — es gibt noch mehr Hinweise, daß der Orden anfing, unter Geldknappheit zu leiden, und daß dieses Leiden allmählich chronisch wurde — kurz, man gab sich hart: "Rat.[ione] des Rieglisch-Vernunftwirrig. Begehrens sage ich [...] es werde die Zeit u. der. Herr. Gesellschaftere Standhaftigk. Ihren halsstarrig. Kopf annoch mürbe machen." Dem pflichtete am 4. Oktober WITTWER (CHIRON) bei: "Die Fr. Rieglin wird die Zeit gewiß noch lernen, uns ihre unzuverkauffende Menge von Exemplarien um den gebottenen Preis ganz willig und gerne zu überlassen." SCHEDEL (CLEANDER III.) mochte von der Unverkäuflichkeit aber nichts hören; in einem Schreiben vom 6. Oktober berührte er diesen Ehrenpunkt, als er sich über die Wünschbarkeit der Neuaufnahmen ausließ: "Dadurch bekäme auch die vielleicht erschöpfte Cassa einen guten Zuwachs, u. es würde nicht schwer seyn, die 300 Exempl. von der Historischen Beschreibung des Ordens, (welche wir zur Ehre unserer Vorfahren nicht ein todes u. unzuverkaufendes Buch nennen solten,) an uns zu handeln, u. würde das Capital nicht übel angeleget seyn, wenn man statt der Interessen unter der Gesellschaft selbst einen Aufschlag machte, und etwann ein Exemplar um 30 oder 36 Xr.25 abgäbe. Ein jedes Mitglied würde ein oder mehrere Exemplaria gegenwärtig um so geringen Preis abnehmen, u. ein jedes neues Mitglied ein gleiches zur Angabe thun [...] u. bis unsere Nachkommen wieder ein Jubilaeum celebriren, so haben sie nicht nur mit uns einerley Gesellschafts-Buch in Händen, sondern der Fleis u. Eifer unseres unvergeßlichen Hrn. Amaranthes würde gerechter Weise allezeit erwehnet."


Wenn ich mich hier schon als Nachkomme angesprochen fühlen soll, stelle ich mir einmal vor, was ich damals zu einer solchen Argumentation gesagt hätte, vorausgesetzt, ich hätte meine heutigen Grundsätze gehabt: Hier beißt sich die Schlange in den Schwanz! Man will neue Mitglieder, um Frau RIEGEL wenigstens ein wenig Geld bieten zu können. (Um so weniger, je länger sie darauf warten muß.) Die Mitglieder will man allerdings bald. Hätte man nicht mithilfe dieser neuen Mitglieder dafür zu sorgen, daß der Blumenorden außerhalb angesehen genug wird, daß sich auch für seine Geschichte wieder mehr Leute interessieren? Stattdessen baut man mithilfe eines Wechsels auf die Zukunft einen Binnenmarkt innerhalb des Ordens auf und glaubt noch, die Verdienste HERDEGENs so am besten unter die Leute zu bringen — auf Kosten des schwächsten Gliedes dieser Kette, der Witwe eines Kleinunternehmers. Zustände wie in der DDR.


Man kriegte die Frau mürbe, man erstand auch ohne die zu erwartenden Aufnahmegebühren die 300 Exemplare, und am 22. 10. schrieb HOLZSCHUHER an SCHÖNLEBEN, man könne ja einige der Bücher an Interessenten in Hildesheim und Göttingen sowie an den Kollegen HARSDÖRFER, den Nachkommen des Gründers, loswerden. Am 2. November sind für insgesamt 3 Gulden "Amarantes" verkauft — "ein kleiner Ordens-Caßa-Zufluß". Dann stockt die Sache.


Was Hildesheim betrifft: Ein dortiger Pastor, JOHANN JUSTUS EBELING, ging HOLZSCHUHER an, er wolle gern unter dem Namen URANOPHILUS Mitglied werden. Die Verbindung war wohl geknüpft worden, weil HOLZSCHUHER auch Mitglied in der "deutschen Gesellschaft" zu Göttingen war. Um so befremdlicher berührt an der darauf bezüglichen Stelle aus dem erwähnten Schreiben, wie undeutsch HOLZSCHUHERs Ausdrucksweise hier ist; selbst im siebzehnten Jahrhundert muß man lange nach einem Beispiel für derart verkommene Schreiberei suchen: "Wann nun übrigens par tout respondendo agirt, so will mithin, vice versa, dieses zu ein-baldigen Beg. Reponse proponirt haben: ob Ew. HochEhrw. weg. einer evident. Marque, daß alles cooperiren wolle, dieselben in Uns. Ord. Negotiis zu subleviren, placidiren, daß, nom. societatis, bey Uns. HochzuVenerir. Hr. Praesidis Magnif. allnächstens in ein. Schreib. anfrage, quo die, in der zur Herein-Reiße fixirten, Martini-woche, eine Ord.-Versammlung beliebig mögte seyn; damit die vorhergehende Invitat.-Schrifften darnach könnten bequeml. eingerichtet werden." Ich kann es nicht über mich bringen herauszutüfteln, was das eigentlich heißen soll.


Aus dem Brief HOLZSCHUHERs an SCHÖNLEBEN vom 5. Januar 1751 geht hervor, daß der Orden auch in dieser Periode wieder "Feinde und Tadler" hatte. Außerdem wird ASTERIOS II. Vorschlag erwähnt, jedem neuen Mitglied ein Verzeichnis der hiesigen und auswärtigen Mitglieder auszuhändigen. Solche Verzeichnisse wurden ab 1794 mehrmals gedruckt. Heutzutage, da dies in Vereinen allgemein üblich ist, gibt es im Blumenorden wieder unzerstreuliche Bedenken dagegen. Nun ja, das 18. Jahrhundert kannte noch keine Reklameplage, und Datenschutz war bei Privatleuten kein Thema.


An Einfällen mangelt es nicht, was der Orden tun könnte: SCHÖNLEBEN schreibt an SCHWARZ am 8. Januar 1751, daß die feierliche Neuaufnahme des Fräulein JANTKE und der Pfarrer KIENER und RIEDERER auch einmal im Irrhain stattfinden könnte; oder, noch wichtiger: SCHÖNLEBEN will SCHWARZ helfen, eine Sammlung von neuen Dichtungen aus dem Orden zu veranstalten. Man fühlt, daß man sich nicht länger auf seinen Lorbeeren ausruhen kann.


Der eifrige ALCANDER wird allmählich ungeduldig und scheint sich zu fragen, welchen Sinn sein Einsatz hat, wenn es doch mit dem Orden gar nicht mehr vorangehen will. Man kann sagen, er spürt schon am 13. Februar irgendwie, daß es mit dem Präses nicht mehr seine Richtigkeit hat: "Es will bey Uns. Löbl. Orden schon gar vieles sagen, daß des Gegenwart. Hr. Praesidis Magnif. außer Uns. Mauern lebet u. nebstdeme behauset ist, u. mithin sind wir garwol befugt, in Corpore weg. verschied. heilsam- u. vortheilig. Verfaßung allhier räthig zu werden, damit alsdann das resolvirte, per Literas, zur gl.mäßig. Approbation, gebührend könne publicirt u. avisiert werden. Wenn ab. niemand die Sache auf der rechten Seite angreifet, wo sie doch muß angefasst werden, od. wenn auch bey ein. Löbl. Eifer es an der behörig. Unterstützung fehlet, sind wir zur Zeit noch um kein Haar gebessert." In diese Stimmung platzt die Nachricht, die ein Schwiegersohn SCHWARZENs namens JOHANN NICOLAUS WEIß am 26. 2. auf einem mit schwarzem Rand ummalten weißen Blatt schickt: MELANDER ist nach siebenwöchigem arthritischem Leiden am 24. Februar verschieden.


Sofort sieht HOLZSCHUHER, allem Anschein nach innerlich aufatmend, die Gelegenheit zu einem Neuanfang. Schon am 6. März gibt er an SCHÖNLEBEN sein Votum ab, der nächste Präses müsse "Authorität und Stärke" in der Dichtkunst besitzen. Woher aber einen solchen nehmen? Seinen Ordensbrüdern scheint er nicht viel zuzutrauen, denn er fühlt behutsam vor, daß doch auch in anderen literarischen Gesellschaften manchmal Oberhäupter gewählt würden, die vorher noch nicht Mitglieder gewesen seien. Dabei denkt er bereits an eine bestimmte Person, einen aus der Patrizierfamilie VON GRUNDHERR. Freilich setzt er voraus, daß man sich wieder mit dem jungen FÜRER werde besprechen müssen.


Da war er zu schnell vorgeprescht. Am 17. Mai, mehr als zwei Monate später, muß er sich noch gegenüber SCHÖNLEBEN verteidigen, er wolle nichts übereilen oder allein betreiben. Es ist das alte Lied mit unbeweglichen Gemütern, daß sie an einem tatkräftigen Menschen nichts so sehr fürchten als dieses, und das Übergewicht der Unbeweglichen in eingeengten Zeitumständen ist eine fast unumkehrbare Verfallserscheinung.




Man macht sich Sorgen

HOLZSCHUHER verliert schon beinahe die Nerven: Er bittet um eine baldige Wahl, damit neugierigen Leuten, die ihm fast schon die gesamten Ordens-Angelegenheiten durch ihre Stichelreden verleidet hätten, die Veranlassung genommen werde. Dabei wolle er selbst gar nichts anderes sein als Ordensrat, auch wenn einige Mitglieder Größeres mit ihm vorhätten, aus mir alleine nur bekannten Gründen, wenigstens nach dem statu praesenti". (Befürchtete oder wußte er vielleicht schon, daß er todkrank war?) Aufhorchen läßt außerdem die Bemerkung, man wolle sich doch bei der Wahl nach den alten Gesetzen halten und nicht machen, daß alles auf einmal neu werde." Es scheint eine Untergruppe ziemlich ungeduldiger Neuerer im Orden gegeben zu haben, die noch viel weiter gehen wollten, als HOLZSCHUHER für tunlich hielt, und als deren Haupt er nicht erscheinen wollte. Liegt darin etwa auch ein Hinweis, man denke an eine Überarbeitung der Satzung? Das wäre eine Rechtfertigung für den vorliegenden Versuch, auch die Betrachtung dieser Zeitspanne unter den Gesichtspunkt der Ordenssatzungen zu bringen.

Für den Fall, daß der neue Präses doch ein bisheriges Mitglied sein müsse, befürwortet HOLZSCHUHER die Wahl DIETELMAIRs. Sollte dieser Kandidat als der einzig wählbare, aber wegen seines Wohnorts doch nicht wünschenswerte erscheinen, damit der ursprüngliche, radikale Vorschlag, ein Nichtmitglied zu wählen, annehmbarer werde? Immerhin hat HOLZSCHUHER schon früh anerkannt, daß DIETELMAIR wählbar sei: 23 Jahre später fiel den Blumengenossen noch immer kein besserer ein.

Es lief hochinteressant weiter: Allen Beteiligten muß klar gewesen sein, daß die nächsten Wochen über Auffrischung oder endgültigen Niedergang des Ordens entscheiden würden.

HOLZSCHUHER faßte dieses Bewußtsein in einem Rundschreiben vom 6. 9. 1751 in die Worte: [...] so ist zur Genüge bekannt, daß einige Herren Mitgliedere ô [d.h. nicht] sonderlich bekümmert, wann der nun über ein Jahr-Hundert im Flor gewesene Löbl. Orden, in einen völligen Stillstand geriete, od. eingienge. Ich gestehe, daß es mir, in diesem Falle unbegreifl. was man etwann damit für den Bürgern Unser. gesammten Vatterstadt vor eine Ehre einlegen dürfte; [zudem wisse man] daß von der Aufrechterhaltung des gesellschaftl. Wesens, auch die Beybehaltung eines von E. Hochlöbl. Magistrat dem Orden zugeeignet. Lehen-Stückes, als näml. des Irr-Waldes, um ein großes abhinge, u. wir ja nicht mit guten Willen, (es wäre dann zu Uns. ewigen Schande) geschehen lassen könnten, daß, daferne die Gesellsch. auf einmal ganz u. gar aufgehoben würde, andere Verfügungen, wie denn solches gar leicht mögl., damit gemacht würden." Das klingt, wie wenn ein scheidungsunwilliger Partner im Hinblick auf die gemeinsam angeschafften Möbel und das Gerede der Nachbarn die Ehe retten will. Von der geistigen Aufgabe des Blumenordens ist in diesem Zusammenhang noch gar nicht die Rede; aber eine solche war den löblichen Mitgliedern in ihrer Mehrzahl sowieso nicht bewußt, sonst hätten sie schon bisher etwas dafür geleistet. Ein weiterer Haken, den HOLZSCHUHER schlagen zu müssen glaubt, besteht in seinen Bedenken, der junge FÜRER werde die Wahl nicht annehmen (wer ihn ins Gespräch gebracht hat, ist unklar). Darum schlägt er abermals DIETELMAIR vor. Die daruntergeschriebenen Antworten streuen vom 5. bis 20. September und sind inhaltlich auch ziemlich gemischt. Zusätzlich kommt es bei dieser Form der Meinungsbildung darauf an, wer als erster seine Gedanken hinschreibt und daher der Sache, ob er will oder nicht, eine Richtung gibt, und wer, wie beim Skat, gemütlich hinten" sitzt und die Summe ziehen kann.

STOY (ASTERIO II.) stellt sich zu Anfang unverblümt auf HOLZSCHUHERs Seite, ist also weniger vorsichtig, als man in dieser Lage erwarten würde. Ob sich HOLZSCHUHER deswegen diesen Parteigänger als ersten Empfänger herausgesucht hat? Als nächster erinnert REICHEL (EUSEBIUS ) an HOLZSCHUHERs Verdienste. Das soll wohl eine Empfehlung sein, ihn zu wählen. GEORG PHILIPP SCHUNTER (MYRTILLUS III., aufgenommen 1747, gestorben 1768) geht deutlicher heraus: wenn DIETELMAIR sich wegen Amtsüberlastung entschuldigt, gibt er seine Stimme HOLZSCHUHER. Bisher ist die Neuerungspartei unter sich. Nun folgt ein überlegter Kopf, der es mit keinem verderben will. LÖHNER (LEUCORINUS ) erinnert daran, daß man bei einer Wahl ja mehrere Kandidaten haben müsse, und schlägt im Hinblick auf längste Mitgliedschaft FLORINDO (den erwähnten JOHANN CARL SCHEURL, geboren 1696) und — nicht ganz folgerichtig — LILIDOR II. vor, im Hinblick auf Verdienste um den Orden aber CALOVIUS (SCHÖNLEBEN) und ALCANDER (HOLZSCHUHER). IRENÄUS (DIETELMAIR) hält er für würdig genug, hat aber Bedenken, weil dieser nicht in Nürnberg wohnt. Eine wohlabgewogene Stellungnahme, geeignet zu völliger Zersplitterung der Meinungen, aber kein direkter Widerspruch.

Am 17. Oktober wendet sich SCHÖNLEBEN an alle Mitglieder und bringt gegenüber Materialismus, Parteigeist und diplomatischem Getue auch einmal den inneren Zustand der Gesellschaft ins Spiel: [...] 1) Unsre löbl. Societaet soll entweder in der langanhaltenden Inactivitaet bleiben, wie bißhero: so wird es so wenig schaden als nüzen, ob sie ein Oberhaubt habe, oder wer dazu erkieset werde, wenn nur die Wahl unseren Statuten gemäß vollzogen wird 2) oder es soll dieser ruhige Cörper mit Geist und Leben erfüllet und in die Bewegung gesezet werden und zwar durch den kräftigen Einfluß eines würdigen Oberhaubts, und da sind dann freylich vielerley Umstaende wohl zu überlegen. Wegen der Versicherung des Irrhayns, des im l. LandAllmos-Amt angelegten Capitals, der Gesellschafts-Casse und des Archivs darf man wohl unbesorgt schlafen, denn dies alles geht und dauert in seiner Richtigkeit ungehindert fort; der innere und moralische Zustand unsres BlumenOrdens entdeket mir einen andren Irrhayn, ubi filo Ariadneo quam maxime opus esse videtur." Und damit zu der Sichtung der Kandidaten: Für ihn scheidet ein auswärtiger Kandidat nach den bisherigen Erfahrungen aus. DIETELMAIR habe aber sogar zwei Lehrämter an der Universität Altdorf zu versehen, sei als Rektor und Dekan vorgesehen und in der Arbeit an einem weitläufigen Bibelwerk (offenbar einer Edition). Auf das schon einmal zugunsten SCHWARZENs angeführte Beispiel eingehend: Unter dem Omeisischen Vorsteher-Amt findet sich in unserm Archiv eine gross. Lücke." Auch aus MELANDERs Papieren habe man trotz Ansuchens noch keine einzige Zeile geliefert bekommen. Wenn ein Altdorfer zwei- bis dreimal im Jahr nach Nürnberg komme, habe er in eigenen Geschäften vollauf zu tun, und der Schriftverkehr sei einfach zu langsam. Er verwahrt sich dagegen, in einer solchen Situation weiterhin den Lückenbüßer abzugeben: Er habe in seinem Haus bereits die 300 Exemplare des Amarantes und das Archiv und könne es nicht andauernd als Sitzungsort zur Verfügung stellen; das könne auch laut Satzung von ihm nicht verlangt werden. Und nun kommt ein schlauer Wahlvorschlag: Herr Senator WALDSTROMER, dessen Einsicht u. Stärke in der Dichtkunst zur Gnüge bekandt ist." Er sei auch ein Mäzen der Gelehrten. Wie wäre es, ihn einen Monat lang pro forma einen Hirten" sein zu lassen, damit er nachher zum Präses gewählt werden kann?



Winkelzüge

Auch diesmal unterschreibt sich STOY zuerst, schon am folgenden Tag. Aber — welche Überraschung: Er schlägt, abweichend von seiner Parteinahme für HOLZSCHUHER, LILIDOR II. vor. Dieser Vorschlag lenkt den gesamten Vorgang um. Seine Ursache kann man höchstens ahnen. (Wer sich näher damit befassen will, sollte herauszufinden versuchen, ob STOY in irgendeiner Hinsicht als Klient der FÜRERschen Familie zu gelten hat.) Alles weitere ist Rückzugsgefecht von zu wenig konservativen Positionen. Vom 21. bis 26. Oktober 1751 votieren nun mehrere Mitglieder für eine persönliche Zusammenkunft. Das Schriftliche ist wohl zu kompromittierend, sollte LILIDOR nicht zu vermeiden sein. MYRTILLUS III. ergreift die Gelegenheit, dabei an den Jahresbeitrag zu erinnern. (Auch das lag im argen.) Und zuletzt versucht tapfer noch URANIO , zu retten, was zu retten ist, wobei er gegen den plötzlichen, allerdings schon lange im Hintergrund wartenden Favoriten die härteste Kritik vom Stapel läßt, die unter den damaligen Umständen denkbar war: Je weniger wir uns, wie ich sorge, Hofnung machen dürfen, daß des Herrn Lilidors II. Wohlgeb. Sich von nun an unsrer Gesellschafft mehr annehmen werden, als bisher geschehen; je unwahrscheinlicher es mir auch ist, daß unser theuerster Herr Irenäus Sich zur Übernahme des Präsidii überreden lassen wird: um so mehr wünschte ich, daß der Vorschlag [Schönlebens] durchgängigen Beyfall finden möchte." All dies eigentlich nur wegen der Weigerung HOLZSCHUHERs, dessen Familie sich innerhalb des Patriziats vor den FÜRERs eigentlich nicht zu verstecken brauchte, der viel für den Orden tätig gewesen war und auch von vielen anerkannt wurde. Doch er läßt sogar seinen Gegenkandidaten fallen und ordnet sich SCHÖNLEBEN unter, wenn er am 25. Oktober an diesen schreibt, er werde bei Senator WALDSTROMER sondieren. Von einer weiteren Sorge ist in diesem Brief die Rede: Eigentlich ist ja der Orden von den 20 Kreuzern befreit, die man der Zensurbehörde für ihre Mühewaltung auch noch zu zahlen hat. Bei der Einreichung der in Druck gehenden Trauergedichte auf MELANDER -- darunter eines von URANIO -- sei die Gebühr jedoch verlangt worden. Hat da jemand angesichts der bevorstehenden Wahl Druck ausüben wollen?

Uranio


Überlegen wir uns einmal, um gerecht zu sein, was ein Präses ALCANDER für einen Unterschied gemacht hätte. Er hatte noch knappe vier Jahre zu leben. Seine geistige Orientierung? Aus dem Brief vom 7. 12. 1751 an SCHÖNLEBEN geht hervor, daß er eine poetische Sammlung mit dem Titel Erweckliche Todes-Betrachtungen herausgibt, die der Vorläufer einer Sammlung moralischer Poesien sein soll. Eine vorsichtige Abschätzung der Aussichten des Blumenordens, unter seiner Leitung die gebahnten Wege zu verlassen und zeitgemäß zu werden, kann nicht sehr ermutigend ausfallen. (Es käme auf die Nebenbedeutungen und Verknüpfungen des Wortes moralisch" an.) Und das wußten die anderen Mitglieder auch, vielleicht sogar er selber. Jedenfalls wird er in dem erwähnten Brief schlagartig sanguinisch: Nachdem STOY mit FÜRER geredet habe, seien seine, HOLZSCHUHERs, Bedenken alle ausgeräumt. Er ist Feuer und Flamme für den neu-alten Kandidaten und fordert CALOVIUS auf, eine Plenarversammlung einzuberufen.


Das entsprechende Rundschreiben ergeht am 21. Februar 1752, knapp ein Jahr nach SCHWARZENs Tod. (Wieder war ein Jahr lang vorwiegend mit Vereinsmeierei hingegangen.) Und siehe: Alle bisherigen Gegenkandidaten sind für LILIDOR. Er wird als einziger offiziell vorgeschlagen -- Zustände wie in der ehemaligen DDR -- und alle schreiben sie ihre untertänigsten Gratulationen auf lateinisch dazu, sogar Akrosticha, und IRENÄUS sogar auf griechisch. Auf deutsch hätten sie ehrlicher sein müssen, oder es wäre aufgefallen. Symptom für den Tiefpunkt der Ordensgeschichte.


Am 24. 2. beklagt sich HOLZSCHUHER bei SCHÖNLEBEN über LEUCORINUS. Der gute LÖHNER hatte das Glückwunschgedicht zur Einsetzung FÜRERs, das carmen inaugurale, aufgetragen bekommen und mit übertriebener Bescheidenheit abgewehrt. Man erinnert sich, daß er von allem Anfang für HOLZSCHUHER als Präses war. Hier wollte jemand, trotz erwiesener Vorsicht und Rücksicht, nicht charakterlos werden. Professor SCHUNTER, ehemals auch für ALCANDER, übernimmt die Aufgabe. Er wird auch eine Lobrede in Prosa auf LILIDORs Herrn Papa halten.


12. April 1752: ALCANDER erwähnt, GRUNDHERR habe wegen der neueren Schwierigkeiten mit der Zensur mit ihm besprochen, daß man ein Testimonium", ein Führungszeugnis, brauche, ob die Societät [...] allezeit unterwürffig gewesen seye, oder nicht". Das könnte jemanden geradezu erleichtern, der die Schuld für alle die blamablen Dinge in diesem Kapitel nicht beim Blumenorden allein suchen will: Schon im 18. Jahrhundert scheint es in Nürnberg eine regierende Seilschaft" von Betonköpfen" gegeben zu haben, wie die Ausdrücke aus der Verfallszeit der DDR lauten.



Bezeichnende Neuaufnahmen

Dagegen werden anstandslos drittklassige Schriftsteller bescheidener Herkunft in den Blumenorden gelassen, bloß weil sie "unterwürfig" genug sind. Da schreibt am 11. Juli 1752 ein gewisser JOHANN GEORG MEINTEL aus Petersaurach ein Dankschreiben für seine Aufnahme, in dem er mit dem spitzbübisch-verzweifelten Humor eines Schulmeisterleins Wuz seine bedrängte Lage offenbart: "[...] daß ein jeder angehender Gesellschaffter bey seinem Antritte 6. ReichsThlr zum Fisco liefern soll. So viel hatte mir, die Wahrheit frey zu sagen, nicht vermuthet. [...] so ist doch das Geld bey den meisten meines gleichen Land-Geistlichen um diese Jahres-Zeit etwas rar; [...] maßen sich die Leute iezo weder zum Hochzeit-machen noch zum sterben Zeit nehmen mögen." Es muß demütigend sein, sich angesichts des Unglücks anderer Menschen kargen Sold zu versprechen, und ich will es dem guten Manne gewiß nicht verübeln, daß ihm seine geistliche Rolle unter diesem Gesichtspunkt schon langsam komisch vorkommt. Aber von der Schriftstellerei zu leben, ist damals (nur damals?) ebenso demütigend, wie Landgeistlicher zu sein, wenn man nichts zuzusetzen hat; man braucht "Patrone": Demnächst erwarte er von der Ansbacher Zensur ein Werk zurück. Auf der Grundlage eines alten Buches von 1588 sind ihm erbauliche Betrachtungen über Kräuter aus der geschäftigen Feder geflossen. Ob der Herr Prediger SCHÖNLEBEN ihm dafür einen Verleger vermitteln könne? ENDTER und ZIMMERMANN hätten schon abgelehnt...

Dem Manne und seinem gleichzeitig aufgenommenen Sohn wurde der Aufnahmebeitrag stillschweigend erlassen. So weit, so gut. Aber daß er, ohne daß man von seiner weiteren Teilnahme im Orden etwas fände, bis heute in der Stammliste unter dem gräzisierenden Namens-Anagramm MELINTES geführt wird, stellt bestenfalls eine Kuriosität dar.

In GEORG ANDREAS WILLs Gelehrten-Lexicon kommt JOHANN GEORG MEINTEL gar nicht schlecht zur Geltung, doch sollte man die grundsätzlich lokalpatriotische Tönung in Anschlag bringen sowie den Respekt vor der Tüchtigkeit eines aus armen Verhältnissen stammenden Gelehrten, wie es um seine Leistungen auf diesem Gebiet auch immer bestellt gewesen sein mag. Geschont hat sich der ältere MEINTEL gewiß nie. "[...] ist geboren den 21. Nov. 1695 zu Buschendorf, woselbst sein Vater, Wolfgang, Schneider und Nürnbergischer Meßner35 war". Als kleiner Lateinschüler lief er einen Sommer lang jeden Tag, den anderen zweimal wöchentlich, vom (heute noch) abgelegenen Orte Rohr nach Schwabach -- das sind wohl, auf Feld- und Waldwegen, insgesamt zwanzig Kilometer. Er war dabei ein guter Schüler und konnte 1714 nach Jena zum Studieren gehen, 1717 nach Leipzig und Halle; natürlich reichte es nur zum Freitischsystem armer Theologen. "1723, da der Herr Marggraf, Wilhelm Friedrich, Todes verblichen, bemerkte unser Hr. Meintel in dem Namen Wilhelmus Friedericus, am ersten die Jahreszahl 1723, entwarf darüber eine lateinische Inscription von 2 Bögen und überreichte dieselbe mit einer deutschen Uebersetzung bei Hofe; [...] Dieses bahnte ihm den Weg zur Beförderung [...] zu dem Rectorate in Schwabach und der damit verknüpften Adiunctur des Ministerii [... Schulmeister und Hilfsgeistlicher heißt das, weiter nichts.] 1730 erhielte er ein Decret auf die Pfarre Petersaurach, nachdem er das Jahr vorher auf die fürstliche Vermählung [des "Wilden Markgrafen" mit seiner permanent beleidigten Preußenprinzessin] ein Gedicht in deutscher, französischer, englischer und holländischer Sprache verfasset und eine ergiebige Medaille dafür erhalten hatte." Sein nach heutigen Begriffen seltsam unproduktiver Fleiß brachte ihm 1755 die Stadtpfarrei in Windsbach ein. Nun hätte er seinen Aufnahmebeitrag wohl entrichten können... 1757 wurde er sogar aufgrund der Schriften, die es ihm mittlerweile gelungen war zu veröffentlichen, zum Doktor der Universität Gießen promoviert. (Man muß sich allerdings erinnern, daß um diese Zeit GEORG CHRISTOPH LICHTENBERG eine bei weitem schlechtere Bezahlung in Göttingen in Kauf nahm, nur um nicht an der Landesuniversität seines ehemaligen Stipendiengebers lehren zu müssen, die einen gar zu bescheidenen Ruf genoß.) "Des Hrn. Doctors ältester Sohn, Hr. Mag. Conrad Stephan Meintel, kaiserlich gekrönter Dichter und des Pegnesischen Blumen-Ordens in Nürnberg Mitglied, der zu Altdorf und Jena studieret und sich in Erlangen habilitiret hat", arbeitete mit dem Vater bei verschiedenen Schriften zusammen und soll laut WILL eine Zierde der Wissenschaft gewesen sein. — Warum lassen einen dann die Bedenken angesichts des Aufstiegs dieser Menschen nicht los, warum erscheinen sie symptomatisch für einen Zustand des Blumenordens, der sich nur mit dem Wort 'Sklerotisierung' bezeichnen läßt? BIRKEN hatte auch Patrone gebraucht, FÜRER seine Lust an Kryptogrammen gehabt, HERDEGEN und WILL selber viel Fleiß an obskure Gegenstände verwandt. Den Unterschied macht allein die Abwesenheit jegliches zeitüberschreitenden Konzepts — und eben die Unterwürfigkeit.

Im Grunde war es fortschrittlich — und wirkte sich später auch so aus — daß man die Reihen der Pegnesen mit Neumitgliedern zu ergänzen suchte, die tüchtige soziale Aufsteiger waren. Die Durchlässigkeit des alten ständischen Systems für begabte Kinder wird immer noch nicht gebührend eingeschätzt von den Verächtern eines jeden anderen als des sozialistischen Systems (die dafür mit dem Wort 'Begabung' nichts anzufangen wissen). HARTLIEB-SCLEROPHILUS war der Sohn eines Hutmachers. Ein anderer Neupegnese jener Jahre, JOHANN LEONHART ETTLINGER, war 1714 als Sohn eines Metzgers in Fürth geboren. In Nürnberg erhielt er, u.a. von Rektor MUNZ-PHILODECTES, seine Gymnasial-Ausbildung. Der gute Ruf Jenas in naturwissenschaftlichen Fächern zog ihn zum Studieren dorthin, und er belegte Medizin, wurde aber auch in die dortige "Redner-Gesellschaft" aufgenommen. Nach Altdorf zurückgekehrt, promovierte er über die Ernährung des menschlichen Körpers. 1734 Aufnahme in den Orden. Auf einer Reise nach Holland, wo man damals als wissenschaftlicher Mediziner wenigstens so viel Praktisches lernen konnte wie ein Bader oder Feldscher, vervollständigte er seine Ausbildung, nahm aber auch in Würzburg an einer der seltenen Sektionen teil, praktizierte hernach in Hof und brachte es schließlich zum Leibarzt in Kulmbach. Die Angaben über diese einzelnen Mitglieder können dartun, welches Potential an neuen Kräften der Blumenorden eigentlich hatte, obwohl er es kaum genutzt zu haben scheint. Man wird noch sehen, wie Leute dieser Art einen fruchtbaren Bruch mit der brackigen Überlieferung herbeiführten, einfach dadurch, daß sie die ihnen gewährte Bildung mit ganz anderen, von der Trübung des Gewohnten freien Blicken betrachteten. Nicht um 1750. Da war der Aufsteiger noch zu wenige. Sie ordneten sich, zu ihrem Vorteil, ein.


Zukunftsschimmer und verpaßte Gelegenheiten

Ein großer Gewinn für den Orden hätte auch die 1751 erfolgte Aufnahme eben jenes Altdorfer Gelehrten GEORG ANDREAS WILL (CHELANDER) sein können. Von irgendwelcher Tätigkeit dieses Mannes innerhalb der Ordensversammlungen und der Veröffentlichungen des Ordens ist aber für den Zeitraum bis 1786 nichts bekannt. Schon KIEFHABER meinte in seiner 1799 erschienenen Biographie WILLs deshalb, er sei gar kein Mitglied gewesen. Hingegen ist sein Hauptwerk bis heute jedem, der sich mit der Literaturgeschichte der Stadt abgibt, wohlbekannt und eine unentbehrliche Hilfe: Die Bibliotheca Williana, ursprünglich das Verzeichnis seiner riesigen Sammlung alter Nürnberger Schriften, später zur vollständigen, kommentierten Bibliographie bis 1794 ausgebaut, steht noch im Nürnberger Stadtarchiv am Egidienberg dem Forscher zur Einsicht zu Verfügung. Es ist zu vermuten, zu dieser Bibliographie habe sich der Orden mithilfe seiner Archivalien und durch Auskünfte von Mitglied zu Mitglied mittelbar nützlich erwiesen. WILL hatte noch bei SCHWARZ den Magistertitel erworben, war dann aber 1747 zu WOLFF nach Halle gegangen und hatte auch bei BAUMGARTEN gehört. In Leipzig traf er mit GOTTSCHED persönlich zusammen. 1748 heimgekehrt, war er lange Privatdozent und gab, wohl um seiner Kasse etwas aufzuhelfen, mit BAURIEDEL-PHILARETHES zusammen die Moralische Wochenschrift Der Redliche heraus, die 1750 und 1751 in Nürnberg erschien. Als BAURIEDEL eine Predigerstelle antreten wollte, stieg er vorsichtshalber aus dem nicht völlig orthodoxen Unternehmen aus. WILL selbst wurde erst 1757 Ordinarius, und zwar für "Philosophie, Gelehrtengeschichte und Schöne Wissenschaften".

Der 22. Juli 1752 ist das Datum eines Einladungsschreibens zur Ordensversammlung, welche am 1. 8., Dienstagnachmittags, um Vesper, in der FÜRERschen Wohnung in der Äußeren Laufer Gasse stattfinden solle. Zehn Mitglieder sagen schriftlich zu, darunter SCLEROPHILUS, der kürzlich aufgenommene Herr Kandidat (des Priesteramts) HARTLIEB. (Dieser wurde der übernächste Präses.)

Also ging das Präsidium an einen verhältnismäßig jungen Mann mit einem alten Namen über: Achtunddreißig Jahre war Herr ANTON ULRICH FÜRER VON HAIMENDORF AUF WOLKERSDORF alt, als er in der Nachfolge seines Vaters CHRISTOPH dieses Amt antrat. Man dachte damals auch in solchen Dingen gerne dynastisch, und doch war die Zeit reif, auch ohne offenbare Zukurzgekommenheiten des ANTON ULRICH, zu bemerken, wie wenig sich in Wirklichkeit wiederholen läßt. Er war ein spätgeborenes Kind — sein Vater war schon fünfzig gewesen, als er auf die Welt kam — und wurde wohl mit der größeren Sorgfalt, ja Sorge aufgezogen, die solchen Familienkonstellationen eigentümlich ist. Viel Selbständigkeit und Selbstbewußtsein konnte er wohl angesichts seines bedeutenden, in Nürnberg zu höchsten Ehren aufgestiegenen Vaters nicht entwickeln.

Man sähe es ja gerne, daß er diesem Gemeinplatz von einem Schicksal entwischt wäre, doch dagegen spricht ein kleiner, aber bezeichnender Umstand ganze Bände: Er erhielt nämlich, als er unter dem Vorsitz seines Vaters 1728 in den Orden aufgenommen wurde, nicht nur, wie es bei Verwandten üblich war, denselben Ordensnamen, also LILIDOR II.; er ließ sich auch dieselbe Blume und sogar dieselbe "Beischrift" samt "Erklärung" verabfolgen, welche da lautet:

Die weiße Lilje prangt mit größ'rer Herrlichkeit

als vormahls Salomo in seinem Königs-Kleid;

Ich zog den Heiland an bey meiner Tauf auf Erden,

Wie kunt ich herrlicher als so gekleidet werden?

Es wird nicht zu ermitteln sein, ob ihm selber nichts anderes eingefallen wäre oder ob sein Vater ihn dazu bestimmte, alles genauso zu machen wie er. In letzterem konnte sich der alte Herr allerdings nur täuschen. Dabei wird es noch am leichtesten gewesen sein, ihm in der Frömmigkeit nachzufolgen, aber an Leistungen für Nürnberg oder gar für die Dichtung hatte ANTON ULRICH, als er 1765 mit erst 52 Jahren als Assessor am Stadtgericht und Oberpfleger von Gostenhof starb, nichts Vergleichbares aufzuweisen.

Man hat einige Zeit lang nicht gewußt, ob in der Trübseligkeit dieser Verhältnisse überhaupt bis 1774 ein neuer Präses gewählt wurde. Akten darüber sowie über irgendwelche Zusammenkünfte sind nicht bekannt. Immerhin erwähnte GEORG WOLFGANG PANZER in seiner Jubiläumsrede, REICHEL-EUSEBIUS habe nach des jüngeren FÜRER Ableben dafür gesorgt, daß die Gesellschaft nicht völlig einschlief, und sogar neue Mitglieder aufgenommen, nämlich LEINKER (MONASTES ), CRAMER (IRENANDER ) und ihn selbst (1767). Er nennt ihn sogar "Vorsteher", aber eine Wahl wird nicht erfolgt sein.

Was JOHANN FRIEDRICH HEINRICH CRAMER betrifft, so soll er nach den Nachforschungen WILHELM SCHMIDTs schon 1763 inoffiziell zum Orden gestoßen sein. Ich habe mich gefragt, ob dieser wohlhabende Kaufmann nicht zu den Vorfahren des Industriemagnaten THEODOR VON CRAMER-KLETT gehört haben kann. IRENANDER stammte jedenfalls aus Hattingen an der Ruhr, wie das Geschlecht derer VON CRAMER-KLETT auch. Sein Vater JOHANN MELCHIOR CRAMER war ein Doktor beider Rechte und "vorderster Ratsverwandter der Preuß. Statt Hattingen u. Richter des Amt Stiepel". Eine direkte familiäre Beziehung läßt sich allerdings nicht nachweisen. Ein ARNOLD FRIEDRICH CRAMER, Tuchhändler, wohnhaft am Schießgraben zu Nürnberg, ist der Großvater des THEODOR CRAMER. Es heißt in der NDB, er sei ein Pfarrerssohn aus Werden an der Ruhr gewesen. Das Genealogische Handbuch nennt einen JOHANN FRIEDRICH CRAMER, der von 1719 bis 1763 gelebt haben soll und daher mit unserem IRENANDER, der erst 1778 starb, nicht identisch sein kann, als Vorfahren des CRAMER vom Schießgraben. Sein Enkel THEODOR CRAMER aber, wie aus der NDB hervorgeht, heiratete die Tochter des JOHANN FRIEDRICH KLETT, der jene Maschinenfabrik gegründet hatte, die heute unter dem Namen MAN international bekannt ist. Er nahm dabei den Doppelnamen CRAMER-KLETT an; und als die MAN im Jahre 1855 den Münchener Glaspalast gebaut hatte, erhielt er den persönlichen Adel. Vom sozialen Typus her — und vielleicht in einer mehr oder weniger entfernten verwandtschaftlichen Beziehung — zeichnet sich jedenfalls bei IRENANDER erstmals eine Entwicklungslinie ab, die in das Industriezeitalter führt.

Man darf REICHEL für seinen Einsatz Dank wissen, aber dennoch zeigt sich an der (nach Aktenlage eingetretenen) Denk- und Schreibpause die Erschöpfung des bisherigen Konzepts. Wer noch Mitglied war, wußte kaum mehr, wieso er sich eigentlich in der hergebrachten Weise dichterisch oder sprachpflegerisch betätigen sollte. Gerade wenn man sich in diesen Dingen auf dem laufenden hielt, mußte man sich damals vom raschen Fortschreiten anderer Kulturzentren an die Wand gedrückt fühlen. In solchen Fällen müßte man von den Neuesten lernen und selbständig weiterführen, was sie selber vor lauter Betriebsamkeit kaum abrunden können — denn sie stehen immer in Gefahr, sich nach kurzer Zeit in endlose Weiterungen verstrickt zu sehen und sich zu verzetteln — doch dazu braucht es einen bewußten Neubeginn. Wäre der Orden gesund gewesen, hätten wir als Zeichen davon mindestens eine neue Satzung von, sagen wir mal, 1760. Das wäre in der Reichsstadt Nürnberg auf dem Boden des süddeutschen Protestantismus möglich gewesen — man hätte sich ja nicht gegen die eigene Tradition wenden müssen — wenn man nur den Anschluß an BODMER und BREITINGER in Zürich gesucht hätte. Es dauerte zu lange, bis 1794, bis man einen Zürcher als Ehrenmitglied gewann. Da war die Literaturentwicklung schon zu anderen Zentren übergelaufen. Aber das, was der Blumenorden in diesen Jahren versäumte, leistete einstweilen sein späteres Ehrenmitglied CHRISTOPH MARTIN WIELAND.