Neunter Abschnitt: Resonanzboden der Literaturentwicklung



Es geht nicht an, die Werke der berühmten Autoren, welche der Pegnesische Blumenorden zur Zeit seines 250jährigen Bestehens zur Mitgliedschaft bewegen konnte, als seine eigenen, gemeinschaftlichen Hervorbringungen in Anspruch zu nehmen. Dazu war der persönliche Kontakt in den allermeisten Fällen zu gering. Was der Anteil des Ordens an solchen epochemachenden Texten allenfalls genannt werden kann, war verständige Anteilnahme. Sie konnte passiv sein, indem man sich als Kenner und Bewunderer erwies, oder aktiv, indem einige der in Nürnberg wohnenden Mitglieder selbst Werke verfaßten, die den epochalen Mustern folgten. Dieser Stand war zu Anfang des hier betrachteten Zeitraums erreicht. Erstaunlich ist im Unterschied zu nachfolgenden Jahrzehnten die Homogeneität der bürgerlichen Dichtung auf den verschiedenen Ebenen, ob nun die Koryphäen des Literaturbetriebs auch einmal anspruchslose Gelegenheitsverse schrieben, oder ob Freizeitdichter sich an Texten mit gewagten Neuerungen versuchten. Das Schillersche Ideal eines ästhetisch durchdrungenen Lebens in allen Bereichen schien nähergerückt. Die verschiedenen „-ismen“, in welche sich der Literaturbetrieb zunehmend aufteilte, hatten freilich auch eine Differenzierung zwischen Konservativen und Neuerern im Orden zur Folge. Über diverse Neuerscheinungen wurde lebhaft debattiert, aber nicht heftig gestritten. Mit der Zeit kamen die Älteren jedoch nicht mehr recht mit. Sie sahen zwar ein, daß man der Jugend Raum geben müsse, glaubten aber an überzeitliche Maßstäbe der Qualität. Das hätte auf fanatische Entgleisungen bremsend wirken können, doch kurz vor dem Ersten Weltkrieg spitzte sich der arrogant nationalistische Ton über Stilfragen hinweg auf allen Altersstufen zu, als hätte die Dichtung ihren Beitrag zur Auslösung des Unheils leisten wollen, durch welches die bürgerliche Kultur materiell und geistig zertrümmert werden sollte.


 


Rückbesinnung


Die Pegnesen um 1890 fühlten sich durch die Anfänge des Ordens keineswegs in ihrem Denken und ihrer Empfindung bedingt, doch ein bißchen neugierig wurden einige schon. Wer sich mit jenen weitab liegenden Zeiten der „Gelehrtenpoesie“ befaßte, nahm entweder lächelnd gewisse Schrulligkeiten wahr und fand sie sogar putzig oder gar bedenkenswert, oder er lehnte sie in Bausch und Bogen ab.

Am 5. Juli 1895 bittet Geissler, daß dem als Barockforscher hervorgetretenen Pfarrer Neumann das einschlägige Buch von Richard Hodermann, „Bilder aus dem deutschen Leben des 17. Jahrhunderts. Eine vornehme Gesellschaft (Nach Harsdörffers Gesprächspielen.) Mit einem Neudrucke der Schutzschrift für die Deutsche Spracharbeit. Paderborn. Druck und Verlag von Ferdinand Schöningh. 1890“ zugeschickt werde. Es handelt sich um eine szenische und erzählerische Umsetzung etlicher Gesprächspiele in historisierend-belehrender Absicht, die deswegen bemerkenswert ist, weil die barocken Eigentümlichkeiten, abweichend vom derzeitigen Geschmack, schon wieder als reizvoll und wertvoll dargestellt sind.

Der Empfänger war ebenfalls ein Bewunderer Birkens, zu seiner Zeit eine rare Erscheinung, aber er war auch betagt genug, um zu wissen, daß auch Justinus Kerner ein solcher gewesen war. Er zitiert in seinem Antwortschreiben ein Sonett aus „Justinus Kerner’s ausgew. poet. Werke I. Stuttg. Cotta 1878. S. 70.“ Daraus geht allerdings mehr patriotische Vereinnahmung Birkens als Verständnis für dessen sprachliche Pionierleistungen hervor: „Deutscher Gesang nur hält uns treu umschlungen“.


Bei den maßgebenden Pegnesen dieser Zeit schwankte das Urteil über die barocken Ursprünge sehr stark. In Schachtel 93 des Archivs:


9t W.V. Freitag den 2 Maerz 1894

[…] Postmeister Schmidt [liest] aus Birkens Handschrift ein Schauspiel „die wunderthätige Schönheit“ mit einem Zwischenspiel „Tugend u. Lasterleben“ ein jetzt ungenießbares Werk dieses Vielschreibers, der viel zu sehr gewürdigt wurde. […]


4. Wochenversammlung [des Jahres 1898]

[…] Beckh spricht kurz über den Dichter Opitz der im 16. [sic] Jahrhundert gelebt hat und der häufig abfällig beurtheilt wird. Beckh betont, daß er diese Anschauung nicht theilen könne, sondern denselben ebenso wie Harsdörfer als Bahnbrecher in der damaligen Literatur schätzen müsse.


Entsprechend pflegte man den geschichtlichen Aspekt und ein Denkmal:


28. October 1898     34. Wochenversammlung

[…] Schmidt spricht über das Grab Birkens, das im Johannisfriedhof unter F 54 b in La. II zu finden ist. Der mit einem sehr schönen Epitaph geschmückte Grabstein ist vollständig mit Epheu überwachsen. Es wird beschloßen, sich mit den jetzigen Inhabern der Grabstelle ins Benehmen zu setzen, um das Epitaph frei zu legen. […]


Zehn Jahre später war ein Festspiel auf der Grundlage des Hodermannschen Werkes erfolgreich (wobei Hodermann nicht erwähnt worden zu sein scheint):


[…] Am 1. November dieses Jahres waren es 300 Jahre, daß der Gründer und I. Präses unseres Blumenordens Gg. Ph. Harsdörfer geboren war u. der Blumenorden wollte es nicht versäumen die Erinnerung an diesen Tag festlich zu begehen. […] Der Festabend selbst fand am 8. November im Adlersaale statt. Herr Studienrat Rektor Bischoff war der Verfasser der meisterhaften Gedächtnißrede […] das von Dr. Reike [sic] verfaßte Festspiel „Scenen aus der Zeit der Pegnitzschäfer nach den Frauenzimmer-Gesprächs[sic]spielen des Gg. Ph. Harsdörffer [sic]“ zur Aufführung gebracht, das bereits schon einmal bei Gelegenheit des Jubiläums im Verein f. Gesch. d. St. Nürnberg so beifällige Aufnahme gefunden hatte. Die Spieler u. Spielerinnen […] waren die Damen: Frau Dr. Kirste, Fräulein Toni Soldan, Frl. Valerie Schrodt, sowie die Herren Dr. Emil Reike, Oberleutnant Gg. Raab u. Oberleutnant Ludwig Stapf. […]


Wenn es nicht um Maskerade ging, sondern um Philologie, war das Interesse schon geringer:


[…] Die II. öffentliche Versammlung am 6. Nov. 1912 brachte uns den, von fleißigem Archivstudium zeugenden Vortrag unseres Ehrenmitglieds Brügel, betitelt: Zierliches und Zieraten in Worten und Taten aus dem Peg. Blumenorden. Leider ließ der Besuch desselben, was die Zahl anbelangt, zu wünschen übrig. […]


Wieder einmal auf Grübel aufmerksam zu machen, blieb einem auswärtigen Mitglied vorbehalten:


36. Wochenversammlung am 19. Novemb. 97

[…] Lambrecht […] bringt das neue Werk von Genée „Zeiten u. Menschen“ zur Vorlage. — Der Vorsitzende verliest aus dem höchst interessanten Buche einige Stellen die von Genées Besuch in Nürnberg handeln. Besonderes Interesse erregt die Stelle über den Volksdichter Grübel u. über den Verkehr Genées in der Grübelstube. Auch des trefflichen Gelehrten Dr. Fromman geschieht Erwähnung.


Selbst ein Schiller-Gedächtnisjahr konnte eine würdige Erinnerung nicht verdrängen: Am 100. Todestag Grübels im Jahre 1909 legte der  Orden einen Kranz an seinem Grabe nieder. Die Schiller-Feier stellte allerdings alles in den Schatten, was der Orden in diesem Jahre für seine eigenen Autoren tat:


[…] Die Feier zum Gedächtnis des 150. Geburtstages Schillers fand am 8. November im „Adler“ statt. Eingeleitet wurde dieselbe durch eine Ansprache des Ordensvorsitzenden der die früheren Schillerfeiern in Nürnberg zum Gegenstand seines Vortrages gewählt hatte. Sodann folgten Lieder nach Schiller’schen Gedichten, die durch Frl. Dora Stöcker u. Herrn Franz Klinger unter Begleitung von Frl. Betty Stöcker gesungen wurden. Fräulein Toni Bäumler erntete mit der Rezitation des Monologs der Beatrice aus der „Braut von Messina“ reichen Beifall. Die nun folgende Aufführung des dramatischen Gedichts von Marie von Ebner Eschenbach „Doktor Ritter“ bei der Hans Reck die Spielleitung übernommen hatte, wurde freudig aufgenommen. Beteiligt waren die Damen Helene Meßthaler u. Anny Hering sowie die Herren Kügemann, Wöckel, Heinrich u. Preis. — Ein Festmahl mit über 100 Gedecken beschloß den Abend in schönster Weise.


Ein weiterer Dichter, der ganz selbstverständlich bei der Pflege des literarischen Erbes dazugehörte, war damals noch Heinrich Heine.


37. Wochenversammlung am 26. Novembr. 18978

Ein Gast der  Tafelrunde Herr Merz erfreute mit einer Reihe von Rezitationen, so der Heine’schen Gedichte „Ritter Olaf“ — „Schelm von Bergen“ — u. „Frieden“. […] Den Vorträgen des Herrn Merz schloß sich ein reger Meinungsaustausch über die Frage an, ob es angezeigter sei die Romanze in mehr erzählendem Tone oder im Tone des Dramas vorzutragen. Der Vorsitzende schloß sich der ersteren Ansicht an, Herr Merz u. einige Herren des Kreises stellten sich dem entgegen. […]


15. December 1899         41. Wochenversammlung

[…] Um ½ 10 Uhr, nachdem Wingenroth und Url eine vorzügliche Ananasbowle gebraut hatten wurde in die Heinefeier eingetreten und begann Beckh mit einem Gedichte des 14jährigen Heine.

Wingenroth hält eine Ansprache zum 100jährigen Geburtstage des Gefeierten, bespricht dessen Werke, seine großartige Lyrik und flicht ein Gedicht Gottfried Kellers ein. Ein stiller Trunk dient dem Andenken Heines. Url bringt des Dichters Lyrik zur Geltung durch die Verlesung folgender Gedichte:

1.) Vorrede zur 3. Auflage 2. Das Meer erglänzte weit hinaus 3. Abenddämmerung 4. Frieden 5. Wallfahrt nach Kevlaar

Schrodt liest

Morgengruß, Seegespenst, Im Hafen

Es folgte daraus Einiges aus der Harzreise durch Beckh

Kuhn bringt nach einer kurzen Vorrede, worin er den Dichter im Dramatischen schildert eine Scene aus Almansor

Unser Gast Kirchner brachte zum meisterhaften Vortrag

An meine Mutter, ein herrliches Gedicht

Sturm, Reinigung

Graf, der wegen seiner Uebersiedelung nach Kempten das letzte Mal bei uns weilte, las aus Deutschland verschiedene Gedichte, um zu zeigen, daß Heine trotz der vielen gegentheiligen Behauptungen, auch ein guter Deutscher war.

Schmidt brachte einige interessante Bemerkungen von Heine, namentlich gegen England, die für die Gegenwart außerordentlich zutreffend erscheinen.

Wingenroth schloß den reichen Abend mit einem ganzen Strauß herrlicher Heine’scher Gedichte […]

Es schloß sich an diese trefflich verlaufene Feier ein kleines Picknick an, das noch andauerte als der Schreiber [Bernhold] um 1 Uhr seinen Heimweg antrat.


Wer hätte gedacht, daß sich Heines Texte im Rahmen eines Gelages wilhelminischer Honoratioren unter großem Beifall zum Vortrag eigneten!


Es war auch nicht so, daß an Viktor von Scheffel nur die idyllische Seite gesehen worden wäre.


Freitag, den 7. April 1911    14. Wochenversammlung

[…] Brügel verliest ein recht hübsches Feuilleton Dr. Paul Landaus „Zu Scheffels 25. Todestage 1886-9. April 1911“, das im „Sammler“ (Augsb. Abendz.) und andernorts erschienen ist. — Beckh, dem im übrigen der Artikel durchaus zusagt, vermißt doch darin eine klare Aussprache darüber, daß es eben in der Hauptsache der Alkoholmißbrauch gewesen ist, der Scheffel so unsicher und unstet gemacht hat. — Diese Bemerkung des Psychiaters ist Anlaß zu lebhafter Diskussion. Kraus [sic] u. Börner finden, daß der Artikel sich eigentlich im Negieren erschöpfe, Schneider kann keinen echten Grund für das „Lamento“, das Landau ertönen läßt, entdecken. Scheffel habe bei alle dem Schule gemacht, ja er sei heute noch modern. Beckh erinnert an des alten Kußmaul Zeugnis dafür, daß Scheffel oft sehr unglücklich war u. kein Behagen gekannt hat. […]




Aktuell Prominente unter den Ehrenmitgliedern


Ehrenvollerweise schickten richtig berühmte Ehrenmitglieder zuweilen auch etwas aus der zweituntersten Schublade an den Blumenorden, der es dann in der Autographensammlung (im Archiv unter Signatur 58) einmotten konnte.


Das Spielhagen’sche Lebenszeichen bleibt dort wohl besser:


Du mit den braunen Augen

Du mit den braunen Augen,

Du schmeidig schlankes Reh,

In deiner trauten Nähe,

Wie wohl wird mir, wie weh!

Darf jubelnd ich mich sonnen

In deinem Strahlenblick,

Denk’ trauernd ich, wie ferne

Mir schwand der Jugend Glück!


So geht es noch eine Strophe weiter, dann folgen die fünf ersten Zeilen noch einmal. Hat er das für die Rolle einer senilen Romangestalt verfaßt? Spielhagen wird sonst als Romancier geschätzt, und über den Roman „Herrin“ berichtete August Schmidt am 28. Oktober 1898 in sehr beifälliger Weise.


Andersherum steht es mit der Wertschätzung Fontanes. Im Berichtszeitraum wird von seinen Romanen nur einer knapp erwähnt: „[…] Hering berichtet über Effie [sic] Briest von Fontane, ein vortrefflich geschriebenes Buch […]“, doch sieben Mal begegnen Hinweise auf seine Gedichte und Balladen, so z.B. am 18. September 1896 („Herr von Ribbig [sic] auf Ribbig im Havelland“, das muß ein Nürnberger vorgelesen haben) und anläßlich seines Todes:

 

23. September 1898 29. Wochenversammlung

[…Beckh] hält dann einen Nachruf auf unser kürzlich verstorbenes Ehrenmitglied Theodor Fontane, das durch Erhebung von den Sitzen geehrt wird. […] Schrodt liest dann einen Nachruf auf Fontane aus der Tägl. Rundschau von Carl Busse. Beckh einen solchen aus der Freisinnigen Zeitung. Geißler trägt aus dem Gedächtniß eine Ballade Fontanes vor: „Graf Montmouth“ [sic…]


30. September 1898 30. Wochenversammlung

[…] Aus der Neuen Freien Presse liest Geck Paul Schlenthers Nachruf auf Theodor Fontane. Beckh reihte einige Gedichte des verewigten Dichters an:

„Der Sommer und Wintergeheimrath“

die vollständige Ballade „Graf Montmouth“

„Die Brücke von Tay“ [sic]

„Herr von Riebeck [sic] auf Riebeck in [sic] Havelland“ […Das kriegte der Protokollant einfach nicht hin, vielleicht aus Rührung.]


Wilhelm Jordan war zu dieser Zeit schon jenseits von Gut und Böse, hätte man meinen sollen, aber er eignete sich noch als Polterer gegen die Jüngeren: „[…] Dr. Beckh liest ein Sonnett von Wlm Jordan, in welchem er in starken Worten die «Modernen» angreift. […]“ Zu Ehren dieses Altliberalen, der gegenüber Polen den Standpunkt eines gesunden deutschen Egoismus vertreten hatte, wurde man sogar produktiv:


10. Februar 1899     6. Wochenversammlung

[…] Es wird beschloßen unser [sic] Ehrenmitglied Jordan zu seinem am 8 ds. gefeierten 80. Geburtstag einen poetischen Glückwunsch, den Beckh in warm empfundenen Worten verfaßt hat und der kaligraphisch geschrieben werden soll zu senden. […]


Im Unterschied dazu wurde Marie von Ebner-Eschenbach für den Blumenorden produktiv, wenn vielleicht auch nur nachfassend:


Wien 8. Februar 97

Hochverehrter Herr Hofrat!

Freudig komme ich der gütigen Aufforderung nach, einen Beitrag zu Ihrer mir so werten Publikation „Altes und Neues vom pegnesischen Blumenorden“ zu liefern. Gern hätte ich mich mit etwas größerem eingefunden, doch steht mir leider im Augenblick nichts anderes als diese wenigen Aphorismen zur Verfügung.

In treuer und dankbarer Ergebenheit empfiehlt sich Ihnen bestens

hochverehrter Hofrat,

Marie von Ebner-Eschenbach


Dies stand auf einer Karte als Begleitschreiben für:


Aphorismen, als Beitrag zu „Altes und Neues aus dem P.Bl.O., 1897“

Wer auf meine Liebe nicht sündigt, glaubt nicht an sie.

[…]

Was ist Reue? Eine große Trauer darüber, daß wir sind wie wir sind.

[…]

Eine mit viel Eifer und wenig Talent ausgeübte Kunst ist der Tod alles Edlen in uns.

[…]

 

Dies letztere hätte sich mancher hinter die Ohren schreiben sollen. Mit ihren klugen Aphorismen, aber nicht nur damit, blieb sie anhaltend zeitgemäß, sodaß noch 1900 zwei Vorträge in einer öffentlichen Versammlung des Ordens gehalten wurden: „Marie Ebner von Eschenbach, von Theodor Brügel; «Die Erdbeerfrau» von Marie Ebner von Eschenbach, von Fritz Sohm“.


Freitag den 5. November 1909    30. Wochenversammlung

[…] Beckh liest aus dem neuen Musenalmanach von Velhagen u. Klasing eine Erzählung „Der Säger“, die unser Ehrenmitglied Marie von Ebner-Eschenbach zur Verfasserin hat. Es ist eine unheimliche Geistergeschichte, bei der man das Gruseln lernen kann, aber die Art u. Weise wie die Geschichte geschrieben ist, verdient volles Lob. Namentlich ist die Gestalt des „Sägers“ vortrefflich gekennzeichnet. Die  Meinungen über den Wert der Erzählung gehen in der Tafelrunde recht weit auseinander.


Freitag, den 7. Oktober 1910        29. Wochenversammlung

[…] Mit besonderem Interesse wird Beckhs Verlesung der Ebner-Eschenbach’schen Novelle „Das tägliche Leben“ hingenommen: die mit gewohnter Feinheit ausgeführte Studie über die Empfindungen eines von Hause aus ebenmäßigen, kraftvollen Frauenherzens, das aus kläglicher Enge der familiären Umgebung, die sich ihm stets von neuem verständnislos entgegenstellt, sich herauszuretten trachtet, und lange mutig u. siegreich einen stillen Kampf kämpft, bis die Frau am Vorabend ihres Ehrentages, des ewigen Widerstandes müde u. unfähig zu jeder Heuchelei sich ergibt und mit dem Revolver in der Hand den Tod herbeiruft. Mit zart tastender Hand werden die Wunder einer ringenden Seele aufgezeigt, ohne daß der letzte Schleier des schrecklichen Geheimnisses sich hebt. […]


Auch Peter Rosegger hatte zum dritten Band von „Altes und Neues“ einen Beitrag geschickt, u.a. diese Verse:


Kleine Gedanken.

[…]

Den Nebulosen.

Willst tiefsinnig du erscheinen,

Hüte dich vor klarer Sprache.

Trübe dreist den seichten Tümpel,

Daß man ihm nicht auf den Grund sieht,

Und man nennt dich unergründlich,

Tief und unerschöpflich geistvoll.

Dunst bricht Strahlen, und der Nebel

Ist des Flachkopfs Gloriole.


Daß seine bodenständigen Geschichten beliebt waren und blieben, ist nicht verwunderlich; eher schon, daß man ihn als philosophischen Schriftsteller bezeichnete. Möglicherweise waren den Leuten die damaligen Berufsphilosophen zu nebulös.


12. W.V. Freitag den 26. Maerz 1897

[…] Url [liest] aus Roseggers kleinen Erzählungen „Des Landwirts letzter Wille“, „Wie ich zum erstenmal auf d. Dampfwagen fuhr“, „Wenn der Sauhalter ein Kaiser wär“ welche sowohl durch den Inhalt als auch besonders durch die Art des Vortrages den vollsten Beifall der Hörer finden. […]


1. Oeffentliche Versammlung am 7. Maerz 1898

Brügel berichtete über den Inhalt Peter Roseggers „Das ewige Licht“ und veranschaulichte mit beredten Worten und herrlicher Sprache das Werk dieses philosophischen Dichters. […]


D. 21. October 1898 33. Wochenversammlung

[…] Beckh eröffnet die Sitzung [eine Seltenheit, da er üblicherweise später erscheint, wahrscheinlich wegen seiner Pflichten am Nordklinikum] mit dem Bericht über einen Besuch den er bei Peter Rosegger, der anläßlich seines Vortrages im Verein Merkur hier ist, gemacht hat.


Davon, daß Rosegger dem Blumenorden von sich aus einen Besuch abgestattet hätte, ist leider nicht die Rede.


Einen sehr verbindlich lautenden Absagebrief wegen der Mitarbeit an „Altes und Neues“ sendete Wilhelm Raabe:


Braunschweig, 12. Febr. 1897


Hochgeehrter Herr!


Selbstverständlich würde es mir eine Ehre und eine Freude sein, mich als Mitarbeiter an Ihrem schönen Buche zu betheiligen; wenn nur nicht so ein armer Prosaiker in dieser Hinsicht so übel dran wäre! Die Versmeister haben es da leicht und haben auch in „ihren Mappen“ stets etwas vorräthig, was sich vor den Menschen sehen lassen kann.

Unsereiner aber, wenn er es ernst nimmt mit seiner Kunst und sich nicht gern blamiren will, muß sehr geduldig warten, daß ihm ein Stoff, der sich zu einem Kunstwerk gut aber auch kurz formen läßt, vom Himmel geschenkt wird. Unsere „Mappen“ sind gewöhnlich leer. Meine ist es vollständig. —

In das zweite Jahr hinein arbeite ich nun wieder an einem Werke, einem einzelnen Bande, der alle meine Kräfte in Anspruch nimmt und mich nicht nach rechts und nach links sehen läßt. Und man ist allgemach alt geworden, die Phantasie erlischt; und grade in unserem deutschen Volke rufen leider am liebsten die litterarischen Gassenjungen hinter einem müde werdenden Propheten „Kahlkopf!“ her. Ich glaube, ganz im Sinne des glorreichen Pegnesischen Blumenordens zu handeln, wenn ich ihm nicht mit einem opus operatum kommen will. Die erste Dichtung, welche ich der erlauchten Gesellschaft, der anzugehören ich die Ehre habe, für würdig halte, wird ihr zur Verfügung stehen.


Mit den herzlichsten Wünschen für das Blühen und Früchtetragen des Ordens durch alle Zeiten

Wilh Raabe


Seine Fähigkeit zur Selbstironie erhielt ihm lange Zeit die Sympathien auch derjenigen, die seine Ansichten zu bestimmten Dingen nicht teilten.


29. April 1904    16. Wochenversammlung

[…] Den Schluß bildet Schmidt mit der Verlesung einiger Kapitel aus Raabe’s „Chronik der Sperlingsgasse“, die ob ihrer ruhigen Schönheit u. tiefen Empfindung wohl auch dann noch gelesen werden, wenn man von den Herren Pannwitz, George u. von der Linde kein Wörtlein mehr sprechen wird.


Es ist immer mißlich, solche Prophezeihungen auszusprechen, doch haben sich Raabe und George wenigstens in den Auseinandersetzungen um politische Korrektheit als Beispiele eher negativer Einschätzung im Gespräch gehalten.

Daß von den übrigen hier oben Genannten noch weniger die Rede ist, muß wohl an der sprachlichen und sonstigen ästhetischen Leistung liegen.




Dem Orden näher stehende prominente Autoren


Eine scharfe Grenzziehung zwischen denen, die ihre Ehrenmitgliedschaft eher als Dekoration auffaßten, und denen, die sich aus ihren olympischen Höhen auch zuweilen gerne dem Blumenorden zuneigten, ist nicht möglich. Dem Grade näher stand dem Orden allerdings jemand, der schon Mitglied war, bevor er zu überregionalem oder gar internationalem Ruhm gekommen war; und so einer war etwa Paul Heyse, aufgenommen 1859, mit 29 Jahren.

Von ihm stammte schon einmal das Festspiel „Unter Brüdern“, das am 26. Juni 1897 beim Irrhainfest aufgeführt wurde. Im darauffolgenden November wurde bei einer Wochenversammlung sein Gedicht „Die Mutter des Siegers“ mit großem Beifall aufgenommen, und es heißt im Protokoll: „Mit Recht wird dieses Gedicht so vielen «modernen Erzeugnissen» der Poesie vergleichend gegenübergestellt.“ Leider ist es ein untrügliches Zeichen verblassender ästhetischer Wirksamkeit, wenn man als Zeuge gegen Neueres von gesetzten Herren aufgerufen wird. Wohlgemerkt, kann von verblassender ästhetischer Wirkung nicht die Rede sein. Noch 1905 konnte man zurecht gewisse Vorzüge seiner Novelle „Der  Ring“ hervorheben: „Ein echter und ganzer Heyse! Die Schilderung interessanter Charaktere in besonderen Gemütslagen und Verhältnissen in einer gewissen dramatischen Zuspitzung, außerordentlich gewandt im Vortrag und in der  künstlerischen Oekonomie. Des Dichters Meisterschaft seelische Probleme, insbesondere Konflikte der Liebe, zu erfassen und darzustellen und sein ästhetischer Formsinn vereinigen sich hier in gleichem Maße zu einem glücklichen Ganzen.“ Am 2. Juni desselben Jahres wird vermerkt: „Paul Heyse übersandte dem Orden seine neuesten dramatischen Schöpfungen: zwei Dreiakter (ein Drama und ein Lustspiel: «Die törichten Jungfrauen»).“ Es handelte sich also tatsächlich um ein Hinüber und Herüber, sodaß die Feier zu Heyses 80. Geburtstag einen der „unsern“ betraf.


Bericht des I. Ordensschriftführers über das Ordensjahr 1910.

 […] Einen Glanzpunkt des verflossenen Ordensjahres bildete die am 18. März stattgefundene Paul Heysefeier im großen Saale des Adler. Dr. phil. Christian Behringer hatte die Festrede übernommen, die das Leben u. Wirken des 80jährigen in formschönen u. inhaltsreichen Ausführungen mit großer Wärme schilderte. Fräulein Zelia Normann vom Stadttheater erfreute durch den Vortrag dreier Gedichte von Heyse, von denen besonders die Mutter des Siegers tiefen Eindruck hervorrief. Bei der nun folgenden Aufführung des reizvollen Heyse’schen Lustspiels „Unter Brüdern“, das unter der Leitung Hans Reck’s in Szene gieng, waren die Damen Putzin u. Anny Hering sowie die Herren Klinger, Kießling, Wöckel u. Heilmeier beteiligt, die in frischem, harmonischem Zusammenspiel ihre Rollen mit großem Geschick bemeisterten. […]


Die tätige Verbundenheit Heyses mit dem Blumenorden, selbst nach dem Empfang höchster öffentlicher Erfolgsbestätigung, ist an zwei Vorgängen ersichtlich:


An unser Ehrenmitglied Paul Heyse, der den Nobelpreis erhalten hat, wurde ein Glückwunschschreiben abgesandt. Beckh verliest anschließend an diese Mitteilung einen interessanten in herzlichem Ton gehaltenen Brief Paul Heyse’s an Beckh. […]

[…] Beckh verliest einen Brief Paul Heyse’s, der sich in anerkennenden Worten über den Nürnberger Schillerstipendiaten Karl Bröger, der vor kurzem bei Paul Heyse Besuch machte, ausspricht. […]


Das muß man sich einmal deutlich vor Augen stellen: Karl Bröger, die spätere Galionsfigur der Nürnberger SPD, macht Heyse einen Höflichkeitsbesuch, und dieser lobt ihn!


Tätige Verbundenheit, ja mehrfache persönliche Anwesenheit wundert weniger im Falle des schon öfter erwähnten Rudolph Genée. Er hatte Alt-Nürnberg überhaupt ins Herz geschlossen. Unter Signatur 77 a enthält das Pegnesenarchiv seine Broschüre. „Hans Sachs. Ein Festspiel zur Feier seines 400. Geburtstages (3. November). In zwei Abtheilungen. Mit einem Nachspiel „Der Krämerskorb“ von Hans Sachs. Berlin, 1894. Verlag von A. Entsch.“ Aber auch zur Feier des 150. Goethe-Geburtstages trug er in Nürnberg bei: „Unser Ehrenmitglied Professor Dr. Genée der von Berlin zur Verschönerung unseres Festes herbeigeeilt war hatte mit der meisterhaften Rezitation von Prolog im Himmel und 1. Scene aus Faust einen herrlichen Erfolg.“ Und selbst im Alter von 79 Jahren schaute er noch einmal bei der Freitagsrunde vorbei:


[…] Der anwesende Gast Dr. Genée erzählt sodann in gemütlichem Plauderton von seinen literarischen Plänen u. Arbeiten, die ihn z. Zt. beschäftigen. Er ist am Abschluß einer größeren Arbeit angelangt, die sich mit Shakespeare und seinem Werden u. Wesen beschäftigt. […] Dr. Genée weiß dann noch in überaus spannender Weise über seinen persönlichen Verkehr mit Adolf Menzel zu erzählen. Es sind Schilderungen voll köstlichen Humor’s, die die Eigenart u. Bärbeißigkeit Menzel’s im vollen Lichte zeigen. […]


Eine eigenartige Bewandtnis hat es mit Martin Greif. Dieser damals gar nicht so unbekannte Autor würdigte den Blumenorden der Aufbewahrung seiner ersten literarischen Gehversuche, die er noch unter seinem eigentlichen Namen „Friedrich Hermann Frey“ verfaßt und Eduard Mörike vorgelegt hatte, der ihn dann an den Verleger Cotta weiterempfahl. (Ein anderes Mitglied des Ordens, Emanuel Geibel, hatte mit diesen Versuchen nichts rechtes anfangen können und den jungen Dichterling mit einer Empfehlung an Mörike weitergeschickt.)

Erwachen


Die Wolken sinken

Der Himmel wird blau.

Die Blumen blinken

Im Morgenthau

Alles freut sich so

Nur mein Herz wird nicht froh

Das sich sonst so gefreut.

Wie’s gestern klagte

Und liebend entsagte

So klagt und entsagt es auch heut.


In den Blumenorden gelangte er mit dessen Aufnahme der Mitglieder des Literarischen Vereins, dem er 1864 beigetreten war. Er war auch derjenige gewesen, der Licht in das Verschwinden des Vorstand-Ehepaars Hoffmann gebracht hatte, die, wie berichtet, in Albacete an der Cholera gestorben waren.


38. W. V. Freitag d. 1. November 1889

[…] Hierauf ergreift nun Hr. Martin Greif das Wort, um in warmer Ansprache seine Zugehörigkeit zu Nürnberg u. dessen geistige Bestrebungen darzulegen; er dankt dem Orden, der ihm die Ehrenbürgerschaft in seinem Kreise verliehen u. bringt ein Hoch auf sein ferneres Blühen u. Gedeihen. […]


3t W.V. Freitag den 19 Januar 1894

[…] Außer den üblichen Wochenschriften sind eingelaufen […] „Agnes Bernauer, der Engel von Augsburg“ von Martin Greif. […]


Dies dürfte das einzige Werk von ihm sein, das heute noch lebt; wenn der Eintrag auf dem Internetauftritt der Agnes-Bernauer-Festspiele Vohburg von 1976 noch Gültigkeit hat, wird es dort regelmäßig aufgeführt. Eigentlich ist das überraschend, denn als Dramatiker war er, in krassem Gegensatz zu seiner Selbsteinschätzung, ziemlich undramatisch und deswegen erfolglos. Um so poltriger konnte er gegen die vermeintlich herzlosen Modernen werden:


In den Stunden, wo ihn sein „Dämon trat“, konnte er mächtig gegen zwei Zeit- und Werkgenossen entbrennen, für die ihm die Eigennatur und ihre Begrenzung jede Fühlung versagt hatte: Richard Wagner und Hendrik Ibsen. In einer fröhlichen Festversammlung, die der Münchener Journalisten- und Schriftsteller-Verein zu einer Geburtstagsfeier des Prinzregenten veranstaltete, waren Ibsen und Greif Tischnachbarn geworden. Es gab Toaste und Tafelreden in bunter Fülle. Plötzlich klopft Greif an sein Glas. Eine Ueberraschung, ein Entzücken — Greif als Improvisator brachte Wunder von erheiternden Naivitäten. Diesmal noch eine Kette von sprühenden Bekenntnissen — gegen gewisse Eigentümlichkeiten der nordischen Dichtung. Stürmischer Jubel. Ibsen klopft an sein Glas. Er zahlt mit gleicher Münze dem Vorredner heim. Gegenseitiges Händeschütteln. Noch stürmischerer Jubel. Ich ging mit Ibsen heim. Da fiel sein drollig zorniges Wort über Greifs historische Dramatik: „Was gehen den Greif die toten Könige an?“ […] Greif aber benahm sich allerliebst. Er sandte mir bei jeder Auffrischung der alten Geschichte einen Brief voll herzlichen Eifers […] „Höre! Man soll nichts ausplaudern und nichts in die Zeitung schreiben — die Leute lesen alles verkehrt!“


Abgesehen davon, daß er mit dem letzten Halbsatz recht hatte — es gab eine verdeckte Kampagne, um Greif einen Dämpfer aufzusetzen, der manchen als Lyriker zu populär geworden war:


Erst als im Anfang der achtziger Jahre jener denkwürdige naturalistische Bauernaufstand in der schönen Literatur anhob, der dem Akademismus, dem Epigonentum, der Gartenlauben- und Höherentöchter-Aesthetik rücksichtslose Fehde ansagte, kam der Lyriker Martin Greif endlich zu seinem Recht. Mit Gottfried Keller, Eduard Mörike, Theodor Fontane und anderen alten Jungen wurde er von den Jüngsten des „grünen Deutschlands“ auf den Schild gehoben. […] Dann pries Karl Bleibtreu in seiner „Revolution der Literatur“ Martin Greif […] als eine Säule der sich verjüngenden deutschen Dichtung. Karl Henkell, Liliencron und andere Neutöner fielen kräftig mit ein. — Professor Georg Scherer in München, Lyriker und Herausgeber viel gekaufter Anthologien und Dichtergrüße nahm ein Dauerinserat des Cottaschen Verlages in der „Allgemeinen Zeitung“ zum Vorwand, durch ein geheimes Rundschreiben die deutschen Parnaß-Genossen gegen Martin Greif aufzuhetzen, damit sie in einer gemeinsamen öffentlichen Erklärung der wachsenden Popularität des Dichters den Garaus machten. […]


Und der Blumenorden? Er hielt treu zu seinem Ehrenmitglied, denn was Greif von den kommenden Größen unterschied, unterschied auch den Orden von anderen Literaturgesellschaften, je länger, je mehr. Nicht zufällig hat sich im Archiv ein Zeitungsausschnitt erhalten, der dies bezeugt, auch wenn der Text nicht von einem Pegnesen stammt:


[…] Ist dieser sonderbare Mensch gar noch ein Lyriker, so muß er mindestens Stefan George, Richard Dehmel oder Frank Wedekind heißen, um Anteil zu erregen. Denn im ganzen ist unsere Zeit so wenig lyrisch wie möglich, und selbst das als sinnig viel besungene weibliche Geschlecht, das früher mit Heines Gedichten unterm Kopfkissen einschlief, oder mit Geibels Gesängen in die Mondnacht hinausschwärmte, interessiert sich jetzt viel eingehender für die Frauenfrage, für sexuelle Aufklärung oder für die Bekämpfung des Alkoholgenusses der Männer, als für die Verse der Poeten.

Martin Greif hat nun das Pech, solch ein Poet von ausgesprochen lyrischer Art zu sein. […]

Welch eine silberzarte Geisterstimme ertönt, wenn Greif im „Klagenden Liede“ den Flötenton, den der Hirte aus dem Gebein eines erschlagenen Kindes hervorlockt, also singen läßt:


O Hirte mein, o Hirte mein,

Du flötest auf meinem Totenbein!

Mein Bruder schlug mich im Haine.

Nahm aus meiner Hand

Die Blum, die ich fand,

Und sagte, sie sei die seine.

Er schlug mich im Schlaf, er schlug mich so hart —

Hat ein Grab gewühlt, hat mich hier verscharrt —

Mein Bruder — in jungen Tagen.

Nun durch deinen Mund

Soll es werden kund.

Will es Gott und Menschen klagen.

[…]


Freitag den 18. Juni 1909, 19. Wochenversammlung

[…] Der Vorsitzende teilt mit, daß an Martin Greif, der heute seinen 70. Geburtstag feiert, ein Glückwunschschreiben des Ordens abgegangen ist; […] Im Laufe des Abends, der zum großen Teil unserem Ehrenmitglied Greif gewidmet ist, gelangt noch manches über des Dichters Leben u. Schaffen zur Verlesung u. Besprechung, so aus dem „Sammler“, aus der „Jugend“ und auch dem Schatze persönlicher Erfahrungen unseres II. Vorsitzenden der seit einer langen Reihe von Jahren dem Dichter nahe steht. […]


Weitere Einblicke aus persönlicher Bekanntschaft wurden nach seinem Tode publik, und zwar schrieb E. Kalkschmidt in München: „Hätte Martin Greif vom Ertrag seiner Gedichte leben müssen, dann wäre er nicht 72 Jahre alt geworden. So aber sicherte ihm eine Dichterpension, die er der stillen Güte des Regenten verdankte, einen ruhigen Lebensabend.“ Genauere Auskünfte aber konnte im selben Presseorgan, der Frankfurter Zeitung, sechs Tage später Dr. Michael Georg Conrad geben, der offensichtlich zu den engsten Vertrauten zählte:

Ohne den speziellen Segen der Herrschenden, der „Gewappelten“, hatte die Kunst so wenig wie irgend ein Handwerk den sprichwörtlich goldenen Boden. Martin Greif durfte in seinen besten Schaffensjahren, wenn er seinen materiellen Vermögensstand überschlug, ohne Steuerhinterziehungsgedanken, in den bekannten Vers mit einstimmen „Mein ganzer Reichtum ist mein Lied“. Und als durch den frühen Tod seines Schwagers, eines tüchtigen schwäbischen Arztes, auch noch seine Schwester mit vier unversorgten Kleinen ihr Sorgenbündlein zu dem seinen legte, da wurde dem Poeten doch zuweilen trüb zu Sinn.

[…] Plötzlich wurde meine Frau lebhaft: „Und Sie, lieber Herr Greif, auf wieviel goldene Stunden edelsten Genusses dürfen Sie als Münchener an Ihrem Geburtstage heute zurückblicken und wieviele dürfen sie noch erhoffen!“ Sie reichte dem Dichter die Hand. Der sah sie groß an, ließ den Kopf sinken, dann stürzte er ins Zimmer zurück und weinte wie ein Kind. Als er sich beruhigt hatte, brach er in die Worte aus: „Verzeihen Sie mir — die Not, die Armut — ein Mensch in meinem Alter, voll Kraft und Lust zur Arbeit, ein Dichter — und keine Kunst, kein Fleiß schützt ihn vor gemeinen Nahrungssorgen — —„ Und bald lächelte er wieder: „Soll es mir besser ergehen, als allen echten deutschen Dichtern?“

Das „echt“ war wohl der einzige Trost, und eingebildet dazu, denn die anderen waren nicht minder echt, sondern nur anders. Einer, dem es leicht wie ihm hätte ergehen können, wenn er sich trotz Mißerfolg andauernd eingeredet hätte, der kommende Dramatiker zu sein, war Hanns von Gumppenberg, der sich auch vom Blumenorden finden ließ.


Freitag, 19. Juni 1904    23. Wochenversammlung

[…] Dr. Oertel berichtet über seinen Freund Hans vom Gumppenberg [sic], der der Tafelrunde schon vorteilhaft bekannt ist. Gumppenberg hat sich eine große, wenn auch schwere u. zeitraubende Aufgabe gestellt. Er will in einem Dramencyclus die Geschichte der deutschen Könige des Mittelalters behandeln […]


Freitag den 1. Februar 1907    5. Wochenversammlung

[…] Durch einstimmigen Beschluß wird der, in München lebende Schriftsteller Hans von Gumppenberg zum correspondierenden Mitglied ernannt. […] Anschließend daran verliest Dr. Oertel drei Arbeiten Gumppenberg’s, die wiederum die Vielseitigkeit des Dichters bekunden. Während das erste Gedicht „Das Mühlrad“ in gedrängter Kürze überaus schöne ernste Gedanken zum Ausdruck bringt, vergleicht das zweite Gedicht in humorvoller Weise den Menschen u. das Menschenleben mit einer Cigarre, wobei er  die guten u. die schlechten Eigenschaften beider geschickt verwertet und in Parallele zieht. — Die dritte Arbeit, eine Humoreske „Subordination“ spielt im Maximilianeum und behandelt mit köstlichem Humor ein Erlebnis aus den Pagenjahren des Dichters, bei dem eine Turnhose, die in ihren Dimensionen dem Träger nicht angepaßt ist, den Mittelpunkt des Interesses bildet und große Heiterkeit erregt. […]


Hiermit hatte er das ihm gemäße Genre gefunden, den Humor. Und dieser wurde mit der Zeit feiner:


Freitag, den 4. Februar 1910        5. Wochenversammlung

[…] Persifliert erscheint [der am 1. Februar verstorbene Otto Julius] Bierbaum in Hanns v. Gumppenbergs gelungener Parodiensammlung „Das teutsche Dichterroß, Nachdichtungen“, von der Beckh die 4. Aufl. (1901) vorgelegt hat. In dem Gedichte „Zwischen Feldern u. Wäldern“ erscheint Bierbaums Ton außerordentlich glücklich getroffen. Beckh zeigt auch, wie der schalkhafte Parodist, nicht minder gelungen einen Jordan, Fontane, Hartleben („Abwehr“), selbst Eichendorff („Abendlied“) wiederzugeben weiß. […]


Als genialen Parodisten nämlich kennt und schätzt man Gumppenberg heute noch — jedenfalls unter Literaturhistorikern.




Auseinandersetzung mit neuen Größen


Nicht ohne bedächtiges Kopfnicken beobachtet man den Wandel in der Wertschätzung, die der Pegnesische Blumenorden dem Naturalismus und weiteren neuen Richtungen der Literaturentwicklung entgegenbrachte. Hieran zeigt sich besonders zeittypisch die Spannung zwischen bürgerlichen Ressentiments und dem Wunsch, auf dem laufenden zu bleiben.


Die Brüder Hauptmann hatten in den Augen der Freitagstafelrunde die Schwelle zur Anerkennung schon 1895 überschritten. Am 19. April dieses Jahres berichtete Knapp „über das Schauspiel «Marianne» von [gestrichen: „Gerh“] Carl Hauptmann, welches er sehr günstig beurteilt. […]“ Ohne wertende Aussage wird vermerkt, daß am 11. Dezember 1896 „über «Die versunkene Glocke» v. Gerhard [sic] Hauptmann“ berichtet worden ist. Die Anteilnahme an weiteren Autoren dieser Richtung erstreckt sich auch auf Otto Erich Hartleben („Sonnenblumen“) und Hermann Sudermann:


3. Februar 1899     5. Wochenversammlung

[…] Wingenroth bespricht Die drei Reiherfedern v. Sudermann in eingehender und fesselnder Weise; er kommt zu eine anderen Ergebniß, als die in voriger Sitzung verlesenen Kritiken und erklärt das Werk als ersten Ranges, sowohl in Form als auch in seinem poetischen Inhalt. Es knüpft sich eine Besprechung hieran, an der sich Schmidt, Wingenroth und Kügemann betheiligen. […] Wingenroth vertritt den Standpunkt die neue Literatur [bei der Anschaffung] mehr zu bevorzugen, während Schmidt an den alten Beschlüßen festhält, die dahin gingen, die in unserer Bücherei bestehenden Lücken nach und nach auszufüllen. Wingenroth beantragt schließlich doch wenigstens:

Sudermanns „Die drei Reiherfedern“

Hauptmanns „Fuhrmann Henschel“

anzuschaffen, was einstimmig angenommen wurde.


Aus der Zeitschrift „Sonnenblumen“ wurden u.a. Werke von Johannes Schlaf und Richard Schaukal vorgelesen. Im Jahre 1900 hatten die ursprünglich so „naturalistischen“ und daher als Pessimisten gescholtenen Schriftsteller, wohl auch aufgrund ihrer eigenen Wandlungen, im Pegnesenorden den Status von Kultfiguren erreicht.


16. Februar 1900  7. Wochenversammlung

[…] Wingenroth berichtet in längerer Ausführung über den neuesten „Hauptmann“ Schluck & Jau das er als eines der besten Werke Gerhart Hauptmanns bezeichnete. Um zu zeigen wie der Verfasser auf den Gedanken des Stückes kam, las der Berichterstatter das Vorspiel Shakespeares zu „Bezähmte Widerspenstige“ vor. Wingenroth wußte seine Ausführungen sehr interessant zu gestalten und schloß sich eine längere Besprechung des neuen Stückes an, an der sich Beckh, Geißler, Schmidt, Kügemann & Wingenroth betheiligten. […]


9. Maerz 1900     10. Wochenversammlung

[…] Richter liest aus der ihm [!] vom Verfasser Arno Holz gewidmeten Gedichtsammlung

„Der Frühling“

„Ein Bild“

„Ein Anderes“

Es sind dies Jugendgedichte, doch zeigen sie großes Talent Formvollendung und viel Empfindung. Die Gedichte gefielen sehr.


20. April 1900     13. Wochenversammlung

[…] Wingenroth schenkt der Bücherei

Tolstoi Auferstehung

wofür gedankt wird und schlägt als Mitglied vor:

Dr. Emil Richter Kaufmann Egydienplatz 21

ferner zu Ehrenmitgliedern:

Gerhart Hauptmann

Detlev v. Liliencron

Richard Dehmel

Hermann Sudermann

auf Anregung Beckhs wird der Vorschlag Dehmel als noch verfrüht zurückgezogen und wird nach § 8 der Gesetze vorstehender Antrag weiter verfolgt werden. […]


Dr. phil. Max Wingenroth, der Hauptbefürworter der genannten Autoren, war Assistent am Germanischen Nationalmuseum; er war am 20. 5. 1898 aufgenommen worden und ging, als er nach Freiburg verzog, nicht einfach seiner Mitgliedschaft verlustig, sondern wurde am 4. Mai 1900 zum „correspondierenden Mitglied“ ernannt.


Am 7. Oktober 1904 sandte die Buchhandlung Zeiser „Des berühmten Schäffers Dafnis, Freß- Sauf- und Venuslieder“ von Arno Holz. Aus diesem Buch wurde gleich vorgelesen. Zwei Wochen darauf schenkte der seither nach München (ohne fernere Mitgliedschaft) umgezogene Buchhändler Emil Richter „ein Exemplar des letzthin besprochenen Buches von Arno Holz «Dafnis Freß- Sauf- und Venuslieder» mit einer eigenhändigen Widmung von Arno Holz. Der Schriftführer soll dafür den Dank zum Ausdruck bringen.“ Nach der wieder aufgelebten spielerischen Anverwandlung gewisser Äußerlichkeiten der Barockdichtung mußte dieses burleske Büchlein ja einschlagen.


Ganz unproblematisch war das Verhältnis zu Gerhart Hauptmann nie, abgesehen davon, wie lange es dauerte, bis man seinen Vornamen in der von ihm gewünschten Weise schrieb. Zum 4. Mai 1906 heißt es: „[…] Brügel verliest 3 Sonette von Gerhard [sic] Hauptmann, die alle drei so rätselhaft ausgefallen sind wie seine „tanzende Pippa“, so daß es der Tafelrunde trotz mehrmaligem Lesen nicht gelingt voll in die tiefen Geheimnisse der Dichtung einzudringen. […]“ Den Roman „Emanuel Quint“ nahm man kommentarlos entgegen. Aber dann regte sich auch einmal Widerspruch:


Freitag den 31. März 1911    13. Wochenversammlung

[…] Schneider berichtet in ausführlicher Weise über Gerhart Hauptmanns Drama „Die Ratten“ u. verliest daraus einige bemerkenswerte Stellen. Das Drama erinnert in seiner ganzen Art an „Fuhrmann Henschel“, entbehrt aber des großen Zuges, da es sich in eine Menge Nebenhandlungen verliert, die die Haupthandlung, nicht immer logisch, unterbrechen. Die Hauptfrage dreht sich um das Kind einer polnischen Dienstmagd, die dieses Kind an eine Berliner Arbeiterfrau verkauft hat, die es ihrem Manne gegenüber als ihr eigenes Kind bezeichnet. Die Hauptconflikte des Dramas entstehen dann dadurch daß die junge polnische Mutter ihr Kind wieder zurückverlangt, was von der Arbeiterfrau mit allen Mitteln verweigert wird u. sogar zur Ermordung der Dienstmagd führt. Der Berichterstatter bezeichnet „Die Ratten“ als ein Werk, das durchtränkt ist von Pessimismus u. Trostlosigkeit. Die Dialektgespräche zwischen der Arbeitersfrau u. der jungen Polin sowie zwischen dem Theaterdirektor Hassenreuther u. dem Theologiecandidaten Spitta — die Schneider verliest — enthalten viele interessante Stellen, wenn auch in der Anwendung des Dialektes zu weit gegangen ist. […]


Da aber nichts erfolgreicher ist als der Erfolg, schaffte man 1912 für die Ordensbücherei Gerhart Hauptmanns gesammelte Werke in sechs Bänden an und hielt 1913 einen öffentlichen Gerhart-Hauptmann-Abend ab:


Dienstag, den 25. Februar 1913

Oeffentliche Versammlung im oberen, kleinen Adlersaal

Der ungewöhnlich rege Besuch des Gerhart-Hauptmann-Abends bekundet ein erfreuliches Interesse weiterer Kreise für die Kunst des hervorragendsten Dichters unserer Zeit. Schneider gibt eine einführende Betrachtung über „Hauptmann und die Mystik“. [Zwei sehr lobende Zeitungsausschnitte über den Abend sind ins Protokollbuch eingeklebt.]


Je näher der Erste Weltkrieg rückt, desto weniger Verständnis bringt man im Orden dafür auf, daß Hauptmann so gar nicht vaterländisch erregt sein will.


Freitag den 6. Juni 1913    20. Wochenversammlung

[…] Dr. Behringer verliest aus der tägl. Rundschau die Kritik über das von Gerh. Hauptmann verfaßte und anläßlich der Jahrhundertfeier der deutschen Erhebung in Breslau aufgeführte Festspiel. […] nicht allein, daß derselbe weit eher eine Verherrlichung Napoleons als ein Gerechtwerden der damaligen Zeit und ihrer großen, deutschen Männer darstelle, zeige es sich in Aufbau und Entwicklung so naiv und so roh in der Diktion […] Wenn trotzdem keine glatte Ablehnung erfolgte, war dies nur der außerordentlichen Regiekunst Reinhardts zuzuschreiben, der durch pomphafte Dekorationen und geschickte Massenwirkungen das Auge so zu lenken verstand, daß der Zuschauer mehr auf diese, wie auf den Text achtete […]


Freitag den 2. Januar 1914    1. Wochenversammlung

[…] Voit verlas aus der tägl. Rundschau eine eingehende Besprechung des neuesten Gerh. Hauptmannschen Dramas: Der Bogen des Odysseus, von Strecker. […] daß sie [die Personen des Stückes] sich nicht nur mit den, von Homer geschilderten Charakteren in keiner Weise decken, sondern in ihrem teils verlotterten, teils verblödeten Zurschaustellen das gerade Gegenteil von dem zeigten, […] den rustikalen Typen seiner sozialen Dramen nicht nur geistig, sondern auch sprachlich nachzimmert. […]

 

Hatte man sich mit dem Naturalismus auf die Dauer noch einigermaßen abgefunden — in der Fabrikstadt Nürnberg bot sich nicht zu verleugnende Anschauung —, so führten aber die Kurven, Schwünge und Brüche der künstlerischen Entwicklung eines bedeutenden Individuums immer wieder zu Entfremdung. Die Bezeichnungen, unter denen Zeitgenossen die Gruppenaktivitäten von Künstlern zusammenzufassen versuchen, um sich einen Überblick zu verschaffen, werden in der Literaturgeschichte vererbt und sind doch im Hinblick auf tatsächliche Entwicklungen und auch Auseinanderentwicklungen von Gruppen ziemlich unsinnig, um wie viel mehr dann bei der Betrachtung eines einzelnen Lebenswerkes. Es lohnt höchstens, Namen von Künstlern innerhalb bestimmter Abschnitte zusammen zu erwähnen, von denen bekannt ist, daß sie persönliche und professionelle Kontakte hatten oder gar eine programmatische Ausgangsposition teilten. Viel sagt das aber vor jeglicher Einzelanalyse nicht aus und wird von dieser nur zu bald bestritten.


Keiner wird den Dichter-Ingenieur Max Eyth zu den Naturalisten rechnen, doch seine Gegenstände überschnitten sich mit den ihren:


Freitag, den 21. Juni 1912    22. Wochenversammlung

[…] Wiesner [sic] bringt aus dem Werk von Max Eyht [sic] „Hinter Pflug und Egge“ einige Gedichte zu Verlesung. So „Wanderregeln“, „Winterabend“ und „Der Monteur“. Das Letzte schildert die Schaffensfreude eines Monteurs der eine Lokomotive zusammensetzt und dann schließlich auf der Probefahrt von seinem eigenen Werke zermalmt wird. — Das Gedicht kann als wohlgelungenes Musterbeispiel gelten für die poetische Behandlung von Stoffen aus der modernen Technik. […]


Die sehr ausführliche Darstellung einer Diskussion über Hermann Sudermann im Protokoll der 4. Wochenversammlung vom 23. Januar 1914 zeigt vor allem, wie sehr sich nach einigen Jahrzehnten die Wahrnehmung eines ursprünglich als Naturalisten bezeichneten Autors verändert hatte: „[…] Schneider hebt Sudermanns Verdienst um die Neuschaffung des deutschen Dramas, seine geschickte Milieuschilderung, die Kraft seiner Gestaltungsgabe sowohl, wie den sittlichenden Einfluß der von ihm geschaffenen Charaktere und nicht zuletzt seine fließende, schöne Sprache hervor. […]“ Andere aus der früher als „Pessimisten“ gescholtenen Gruppe eigneten sich zunehmend zur gehobenen Unterhaltung mit satirischem Einschlag:


Freitag den 17. Dezember 1909    35. Wochenversammlung

[…] Der übrige Teil des Abends wird mit Brettlliedern von Arno Holz, Detlev von Liliencron, Dehmel, Finkh und Heimel ausgefüllt, an deren Verlesung sich eine lebhafte Unterhaltung anschließt.


— oder gar für Damenabende:


Freitag den 28. Nov. 1913.    37. Wochenversammlung. Damenabend.

Den Reigen der literarischen Vorträge eröffnete Dr. Heerwagen mit einer Arno HolzBiographie. […] alle Stimmungen seines regen Geistes […] sowohl die mystische, wie die lyrische, soziale und märchenhafte […]


Im Jahresbericht steht darüber: „[…] Auch die Abende mit Damen erfreuten sich eines sich stets steigernden Zuspruchs. Während die ersten 5 Abende noch ohne bestimmtes Programm stattfanden, wurden die letzten 3 mit einem festen Programm durchgeführt und zwar galt der eine ausschließlich den Dichtungen Lilienkrons, der nächste denen von Arno Holz & Otto Jul. Bierbaum, während der letzte dem Dichter Stefan George gewidmet war. [Lob an den II. Vorsitzenden für die Auswahl]“ Dies überrascht vor allem im Hinblick auf Richard Dehmel, der ein Schreckbild gewesen war:


10. W.V. Freitag den 12. Maerz 1897

[…] Dann Lambrecht über „Auf die Liebe“ von Richard Dehmel. Die vorgelesenen Proben lassen nur bedauern, daß ein sonst begabter Dichter sich in dem Schmutze wälzt. Das Buch gibt Lambrecht dem Orden zum Geschenk.


Freitag, den 6. Oktober 1911    29. Wochenversammlung

[…] Steller verbreitet sich im Hinblick auf den Dehmel-Abend der „Neuen Vereinigung“ dahier am kommenden Freitag über den Dichter und Menschen Richard Dehmel, den er u.a mit folgenden Sätzen charakterisiert:

In Dehmel zeigt sich […] ein großes Talent, das aber vollständig das Bewußtsein verloren hat, was ein zweckbewußtes, arbeitsfreudiges Leben wert ist. Er bringt keine Ewigkeitsideen. Mit einem erheblichen Aufwand von lyrischer Technik weiß Dehmel hie und da Eindruck zu machen. Ein großes Können wird an Gemeines verwendet. […]


Freitag den 1. November 1912    31. Wochenversammlung

[…] Daß der veränderte Geschmack einer neuen Zeit nach anderen Kunstformen ringt u. diese seinem jeweiligen, geistigen Empfinden anzupassen sucht, ist ein von Alters her vererbter Drang allen menschlichen Strebens, u. je umfassender die Wandlungen, ja entgegengesetzter die Richtungen, desto schwieriger ist die Aufgabe einer neuen Verkörperung der Kunst. Die Verschiedenheit der Anschauungen u. der Drang, etwas absolut Neues, Eigenartiges zu bringen, zeitigt dabei Formen, die ja als Übergänge interessant, aber in sich nichts weniger als vollendet sind. So mag auch dem Impressionismus vielleicht in sich selbst, vielleicht als Vorstufe einer sich daraus entwickelnden Zukunftsrichtung, nach der nötigen Klärung noch eine Zukunft bevorstehen; was er vor der Hand bietet u. was Rich. Dehmel als sein berufenster Vertreter in seinen auf ihm aufgebauten Dichtungen bietet, ist rein negativ; sind visionär gesehene Figurenfragmente zu einem bunten Haufen verschlungen u. in Verse gepreßt, ohne jede Möglichkeit für den Leser sich darin zurechtzufinden. Der Impressionismus soll das in seine Vorstellung übersetzte Geschaute künstlerisch verklären u. nicht verklexen, wie er es in den meisten Fällen tut. Von Rich. Dehmels Gedichten: „Lebensmesse“, „Ruf an die Kühnsten“, „Gebet im Flugschiff“, „Anno Domini 1812“ u. „Blutfrost“ ist das erste geradezu eine Musterwerk der Unverständlichkeit. — Wesentlich glücklicher zeigt sich Rich. Dehmel in seinen Kinderliedern. […] der Zweck des Kinderliedes ist doch nicht allein dessen Auffassungsvermögen entgegen zu kommen u. es zu unterhalten; es soll auch sowohl ethisch, wie sprachlich, bildend wirken […Protokoll von Börner]


Solche fast widerwillig erteilten späten Weihen wurden Frank Wedekind nicht zuteil.


Freitag, den 14. Juli 05    26. Wochenversammlung

[…] Zeiser sendet zur Ansicht: […] „Allsiegende Liebe“ von Frank Wedekind. Aus dem letzteren Buch gibt Beckh einige schaudererregende Beispiele zum besten.


Am 7. Mai 1909 schenkt Schatzmeister Lambrecht der Bibliothek „Frühlings Erwachen“ von Wedekind, wohl als Kuriosität; ein Vorstoß des progressiv gestimmten Hans Wießner vermochte auch nichts gegen das ihm anhangende Odium eines Bürgerschrecks:


Freitag, den 15. Mai 1914.    18. Wochenversammlung

[…] In eingehender Weise beschäftigt sich die Versammlung mit einem von Wiesner [sic] brieflich an den Vorsitzenden gerichteten u. von diesem verlesenen, eingehend begründeten Vorschlag, den Dichter Frank Wedekind anlässlich seines bevorstehenden 50. Geburtstags zum Ehrenmitglied des Ordens zu ernennen. Beckh erkennt an, daß […Wedekind] seinen Werken trotz abstossender Brutalität und allzu einseitiger Betonung des Geschlechtlichen doch einen ethisch immerhin noch befriedigenden Ausgang in Vergeltung oder Sühne zu geben verstanden habe […] auch Dr. Behringer kann gegenwärtig W. nicht den Charakter einer Persönlichkeit, d.h. sittlichen Persönlichkeit, zuerkennen […] Lambrecht hat alles, was bisher von W. aufgeführt wurde, gesehen u. glaubt sich nicht für prüde halten zu müssen; gleichwohl habe er vor W.s Brutalitäten, Perversitäten, Takt- u. Geschmacklosigkeiten, ganz besonders im „Erdgeist“, sich geekelt. Janko führt aus, dass es W. in den letzten 5 Jahren vorzüglich verstanden habe, sich als Märtyrer der Zensur aufzuspielen; diesem Umstand, der reklamehaften Förderung durch Max Reinhardt […] verdanke er die Zunahme seiner Anhänger […] Wiesners Antrag […] muss also, weil am ungeeigneten Object gestellt, abgelehnt werden. […]


Um noch einmal auf das im Zusammenhang mit Dehmel verwendete Wort „Impressionismus“ zurückzukommen:


Freitag, den 10. Februar 1905    5. Wochenversammlung

[…] Oertel verliest sodann aus Hugo von Hofmannsthal’s „Unterhaltungen über literarische Gegenstände“, welche zugleich das 1. Bändchen der von Georg Landau herausgegebenen Sammlung illustrierter Einzeldarstellungen, „Die Literatur“ betitelt, bilden, das erste Gespräch: „Über Gedichte“. Es gibt eine Art Extrakt aus der Poetik jener hysterisch-nervösen Richtung der modernen Literatur, die man nach dem Vorgange der Franzosen der in ihr zutage tretenden bildlichen Ausdrucksweise wegen „Symbolismus“ oder, sofern der Dichter jedem von außen kommenden Eindruck blind und willenlos folgt, „Impressionismus“ nennt. Wie die französischen Vorbilder dürften auch die deutschen Vertreter dieser Richtung sich „Dekadenten“ nennen, da sie in bewußtem Gegensatz zu dem abgehausten [?] äußerstem Naturalismus vom Körper gar nichts wissen wollen und in die Abgründe der Mystik, zuweilen sogar des — Blödsinns tauchen. Wenn auch nicht so tief, so gerät die Deduktion Hofmannsthal’s  doch in wunderbare Übereinstimmung mit der Dichtung, der er das Wort redet, in den Irrgarten traumhafter, farbenschwelgender, wortekostender Überpoesie, wo jeder Strom und Quell wahrhaftigen Lebens versiegt, jede deutliche sinnliche Fülle sich in Luft und Wortsch[w — das „w“ nachträglich gestrichen!]all verflüchtigt. Wie die unklare Verschwommenheit seiner Aufstellungen gegenüber der Klarheit der von wahren Kunstwerken abgezogenen Gesetzen [sic] etwa eines Lessing in nichts zerfällt, ebenso spricht er Dichter wie Hebbel und Goethe ganz mit Unrecht für Parteigänger des von ihm auf den Schild gehobenen Stefan George an. Das Hebbel’sche, nur acht Zeilen umfassende Gedicht „Herbsttag“ von Oertel [welcher das Protokoll führt] aus dem Gedächtnis vorgetragen schlägt alles, was er und Stefan George in seinem „Jahr der Seele“ über „den“ Herbst zu sagen haben.


Über Hofmannsthal hatte man schon einmal zustimmend geurteilt:


1. December 1899     39. Wochenversammlung

[…] Wingenroth bespricht Hugo v. Hofmannsthal: Theater in Versen

er liest daraus „Die Frau im Fenster“

sowie Bruchstücke aus

Die Hochzeit der Sobeide

Der Abentheurer und die Sängerin

Die Sachen gefielen sehr und soll das Werk angeschafft werden. […]


Im ganzen war seine Rezeption im Blumenorden eher lauwarm.


Freitag, den 15. März 1912    9. Wochenversammlung

Heerwagen bringt die gedankenschwere Dichtung Hugo v. Hofmannsthals: „Der Tor und der Tod“ zur Verlesung. In wirkungsvollem Vortrag führte uns Heerwagen den, von faustischem Verneinungsdrang erfüllten Toren Claudio vor, wie er teils monologisierend, teils mit dem Tode dialogisierend das menschliche Dasein erst in seiner Wesenheit zerfasert, um es in seinem Endwert mit umso größerem Rechte verdammen zu können. Durch einen Bogenstrich auf seiner Geige läßt der Tod […] ihm […] zur Erkenntniß bringen, welch reiches, unerkanntes Maß von Mutterliebe, Geschlechtszuneigung und aufopfernder Freundschaft er im Leben achtlos übersehen, ja verscherzt, um seinem blöden Verneinungsdrange gerecht zu werden […] In ihrem rein geistigen Aufbau ohne wesentliches dramatisches Beiwerk dürfte die Dichtung, trotz der in ihr versuchten Lösung des großen Lebensproblems und des heute dieser Frage entgegengebrachten, regen Interesses, kaum einen ernstlichen Bühnenerfolg erringen. […]


Hingegen steigerte sich das Interesse an Stefan George bis zum ersten Weltkrieg und darüber hinaus — aus den falschen Gründen.


19. W.V. Freitag 21. Mai 1897

[…] Url spricht über einen neuen Dichter George und liest ein Gedicht desselben „Der Jahrestag der Ringer“ […gemeint ist „Der Ringer“ aus dem „Buch der Hirten- und Preisgedichte“, das mit dem Gedicht „Jahrestag“ anfängt.]


29. April 1904    16. Wochenversammlung

[…] Steller erzählt daß er vor kurzem in einer Münchener Gesellschaft als bedauernswerter Idiot angesehen wurde, weil er von der modernen Lyrik eines Stefan George nicht viel wußte u. das ihm Bekannte als nicht hervorragend bezeichnete. Er gibt nun einige Proben aus George’s Lyrik, die in tollen Sprüngen u. Besonderheiten sich ergehen u. ruhigen Mutes in das Kapitel des unfreiwilligen Humors verwiesen werden können.


Freitag den 30. Januar 1914.        5. Wochenversammlung

[…] Dr. Reicke […] welcher in 1 1/2stündigem, fesselnden Vortrag ein ziemlich eingehendes Bild Steph. Georges entwarf. […] Eine Eigentümlichkeit Georges war das Ausschalten fast jeder Interpunktion, aller großen Buchstaben u. eine große Papierverschwendung bei der Drucklegung. [… Dazu ein Ausschnitt aus Fränk. Kurier v. 4/2 14., gezeichnet Osk. Beringer:] Herr Konrad Gustav Steller […] verlas zum Schlusse unter starkem Beifall drei prachtvolle sogenannte Kampfgedichte von George: „Dante“, „Goethe“ und „Böcklin“, die das Bild des Dichters in willkommener Weise erweiterten.


Wenn die Freitagsbrüder überfordert waren, versuchten sie’s humorvoll zu nehmen, so auch im Fall Rilke:


Freitag den 3. November 05        34. Wochenversammlung

[…] In hervorragend fröhlicher Stimmung verlief sodann der übrige Teil des Abends. — Ein moderner Dichter war daran Schuld; Rilke ist sein Name — urdrollig seine Art! — Seine 3 Gedichte in Prosa aus der neuen Rundschau: Hetärengräber —, Die Geburt der Venus — Orpheus-Eurydike-Hermes bergen so viel unbewußten u. ungewollten Humor in sich, daß beim Verlesen den Herren der Tafelrunde die Tränen über die Wangen liefen. […]


Freitag den 6. März 1914    9. Wochenversammlung

Wießner jun. las, in geschickter, aber etwas zu ungestümer Anpassung an die Art der Dichtung, eine im üppigsten Impressionismus schwelgende Arbeit Rainer Maria Rilkes: „Die Weise von Liebe & Tod des Cornets Christ. Rilke“ vor. […]


Mit den Katalogisierungen tat man sich schon damals schwer. Die Klassische Moderne rang sich erst in Einzelleistungen aus dem vielstimmigen Chor der Literatur, die noch etwas Weltanschauliches voraussetzte, heraus und wurde zunächst als geistig leer empfunden. Einig war man sich höchstens im Bewußtsein, einer Endzeit anzugehören, und die Propheten dieses Gefühls wurden auch anfangs nicht ernst genommen; man hatte es ja so herrlich weit gebracht.

 

27. W.V. Freitag den 10. Juli 1896

[…] Schmidt berichtet noch über „fin de siècle“ v. Herm. Kurz, eine geringwertige Arbeit, welche die Lust nach Neuheiten nicht zu erhöhen vermag.


Hermann Kurz, Vertreter der „Schwäbischen Dichterschule“? Nicht Hermann Bahr? Jedenfalls hielt man im Blumenorden erst einmal Abstand zu aller Dekadenz.


15. W.V. Freitag den 3. Mai 1895

[…] Dr. Beckh kommt auf das früher gelesene Buch „Fiebernde Gluten“ zurück das eine gewisse Verderbtheit der jetzigen Literatur kennzeichne. […]


Über die Ansicht-Vereinbarungen mit den Buchhändlern und die abonnierten Literaturzeitschriften bekamen die Pegnesen allerdings manches mit, womit sie sich, das muß man ihnen zugute halten, erst eingehend befaßten, bevor sie in einem Urteil übereinkamen. Gelegentlich kamen sie auch nicht überein. Es gab jedenfalls eine vorandrängende Minderheit, der nichts zu gewagt war.


9. Wochenversammlung am 4. Maerz 1898

[…] F. & H. Zeiser legen zur Ansicht vor:

Arthur Schnitzler „Freiwild“


23. Wochenversammlung 17. Juni 1898

[…] Dr. Wingenroth liest […] Max Dauthendey: Gesänge der Düfte

1.) Geruch der Walderde, 2) Regenduft

3. Jasmin 4. Rosen 5. Morgenduft

Die wenigsten dieser Gedichte sprechen an und liegen den Empfindungen und dem Geist die im Orden herrschen zu fern ab. […]


12. Januar 1900 2. Wochenversammlung

[…] Wingenroth bespricht

Heinz Thomasett: Die 4 Bücher des armen Thoms

Unglaubliches Zeug. Der Verfasser sollte nicht frei herumlaufen dürfen, obwohl er ein Bekannter Wingenroths und Kügemanns ist.

W. bespricht weiter

Rud Huch [Bruder von Ricarda Huch]: Geschlechtsgrößenwahnsinn

Ein äußerst geistreich geschriebenes Buch, das aber trotzdem nur in dunkler Nacht in einem dunklen Keller gelesen werden darf. Schluß ½ 12 Uhr, worauf Wingenroth noch bittet, eine handgemachte Gänseleberpastete vertilgen zu dürfen, was ihm huldvoll bewilligt wird.

fecit Lambrecht


Weil man ja im Wirtshaus zusammensaß, gewöhnte man sich an verschwiemelte Décadence bzw. grelle Satire wie an bestimmte stark gewürzte bzw. mit haut goût versehene Speisen und fand nichts dabei, was nachhaltig im Bewußtsein und Genuß der eigenen Alltags-Solidität gestört hätte.


26. Februar 1904    8. Wochenversammlung

Die Zeiser’sche Buchhandlung sendet:

[…] Der einsame Weg, Schauspiel v. Arthur Schnitzler.

Das letztere wird für die Bücherei erstanden.

[…] Sohm, ein seltener Gast in der Tafelrunde, verliest mit glücklicher Betonung u. tiefer Empfindung eine dramatische Studie „Gestern“ von Hoffmansthal [sic], die einen Blick in das üppige Leben der italienischen Frührenaissance bietet. […]


Freitag, den 14. Februar 1913    5. Wochenversammlung

 […] Zeiser sendet: Arthur Schnitzlers Komödie „Professor Bernhardi“, die bereits an mehreren reichsdeutschen Bühnen mit Erfolg aufgeführt wurde, deren Aufführung in Oesterreich aber wegen ihrer kritischen Stellungnahmen zu österreichischen Staatseinrichtungen verboten ist. Das Werk Schnitzlers behandelt in tragikomischer Weise und mit scharfer Satire gewisse politische, konfessionelle und ethymologische [sic] Gegensätze in dem neuen Oesterreich und entwickelt aus einem anfänglich unscheinbaren Konflikt zwischen Arzt und Priester überraschend dramatische Wirkungen. […]


Artur-Schnitzler-Abend im Pegnesischen Blumenorden.

Nürnberg, 27. März [1914]

[Fränk. Kurier.  Ein sehr ausführlicher, zweispaltiger Artikel, verfaßt von Oskar Beringer. Daraus:]

Der Pegnesische Blumenorden hatte es sich für  dieses Winterhalbjahr zur besonderen Aufgabe gemacht, die deutschen Dichter der Gegenwart einem größeren Kreise näher zu bringen […] Dr. phil. S. L. Janko [sprach über] „Artur Schnitzler als Erzähler“.

[…] So tragisch es wirken kann, wenn ein Dichter nie über sein Erstlingswerk hinausgekommen ist, ebenso quälend kann es manchmal für den Dichter werden, wenn man ihn stets vom Standpunkt seines Erstlingswerkes beurteilt. So ist es ein Irrtum, wenn man Schnitzler nur nach seinem „Anatol“ und seiner „Liebelei“ einschätzt. […] alle Menschheitsfragen haben ihn bewegt, und er ist manchmal im persönlichen Kampf mit Gegenwartsproblemen so weit gegangen, daß er wie in „Professor Bernardi“ lediglich ein jedem Liebesmotiv fernes Problem zur Sprache kommen läßt.

[…] als Grundstimmung Pessimismus und Fatalismus […] Gegenüberstellung zu dem Phäakentum […] dieser schönheitstrunkenen und kulturreichen — aber bereits einer Dekadenz entgegengehenden Stadt [Wien]

[…] Man tut dem Dichter unrecht, in seinen Frauengestalten nur liebestolle Geschöpfe und lebenshungrige Gesellschaftswesen sehen zu wollen. Frauen, wie Anna Rosner in „Weg ins Freie“, […] lieben, aber ihre Liebe ist eine große, ewige, schaffende, gebärende, weil nicht die Lust sie treibt, sondern das Verlangen nach einem Kind. […]


Leicht schwülstige „Lebensphilosophie“, ja — aber wenn es um den ging, der das alles angestoßen hatte, war man erst einmal entsetzt:


Freitag den 1. Juli 04    25. Wochenversammlung

[…] Lambrecht weist auf ein Buch von Wüst „Umwertung der Werte“, das dem Andenken Nietzsche’s geweiht ist, hin u. schenkt dasselbe der Bücherei. Der Inhalt ist zum Teil haarsträubender Natur. […]


Freitag den 26. Mai 1911    20. Wochenversammlung

[…] Heerwagen bringt das Buch von Eckertz „Nietzsche als Künstler“ zur Vorlage […] daß Nietzsche in seinen Werken, sowohl in der dichterischen u. sprachlichen wie auch musikalischen Form Großes geleistet hat, so daß viele seiner Sätze vollendete Kunstwerke von feinstem Formgefühl genannt werden können. Dr. Eckertz, der Nietzsche sehr viel apostrophiert, geht im Rausche der Begeisterung in manchen Punkten etwas zu weit, so daß seine Beweisführungen oftmals gekünstelt u. gequält erscheinen. […]


Freitag den 19. Dez. 1913,    40. Wochenversammlung

[…] Dr. Behringer las alsdann aus den Abhandlungen Bieses eine Biographie Nietsches [sic] vor. […] Die Anschauung, daß sich Nietsche in seinen Lehren mit der Sozialdemokratie identifiziert und ihrem materiellen Aufputz gewißermaßen zu einem geistigen Rückgrat verhelfe ist schon darum nicht haltbar, weil gerade die markantesten Stellen seiner Werke dem ethischen Programm der Sozialdemokratie entgegenstehen. — Als Dichter zeigte er die meiste Verwandtschaft mit Hölderlin […]


Da Hölderlin erst 1914 wiederentdeckt wurde, ist die Aussage ein bemerkenswertes Dokument für einen sich anbahnenden Diskurswechsel. So etwas läuft übers Hörensagen, ohne daß die meisten die betreffenden Werke eindringlich gelesen haben. Mit Nietzsche in Verbindung gesehen hatte Beckh schon am 12. Juli 1895 Christian Morgenstern. Zu diesem ist nur noch ein Hinweis in den Akten, als nämlich seine kürzlich erschienenen „Galgenlieder“ mit „viel Heiterkeit“ aufgenommen wurden. Seine Wendung zur Anthroposophie bekam man nicht mehr mit. Das ist, für Nürnberg, eigentlich seltsam; oder auch wieder nicht, wenn man die ererbte lutherische Buchfrömmigkeit dieser Herren bedenkt.


Der Name Hermann Hesse geistert an wenigen Stellen durch die Protokolle. Merkwürdigerweise bezeichnet man ihn als „bekannten schwäbischen Dichter“, nimmt ihn aber nicht als solchen wahr, sondern als Verfasser interessanter Essays, und überlegt schon, 1911, ob man ihn im folgenden Jahr zu einem Vortrag einladen solle. Daraus ist nichts geworden.


Mit Befriedigung nimmt man zur Kenntnis, in welchem Maß und mit welcher Duldung der scheinbar so elitäre Zirkel sich Verfassern zuwandte, die seiner eigenen Lebens- und Wirtschaftsweise mehr oder weniger fremd gegenüberstanden oder sogar feindlich gesonnen waren. Dabei muß hier ungeklärt bleiben, ob die Betreffenden eher sozialistisch oder sozialdemokratisch genannt zu werden verdienen. (Etwa im Falle von Carl Henkell.)


Wer ist ein „Arbeiterdichter“? Ein Arbeiter, der auch dichtet?


29. W.V. Freitag     18. October 1895

[…] Dr. Beckh hat von einem 27jährigen Erd-Arbeiter Kiefel einen Brief erhalten, worin er bittet, zwei beigelegte Gedichte

Acrostichon auf den Blumen-Orden

Die Liebe

zu lesen u. zu begutachten; dieselben zeugen von einer gewissen Beanlagung und sind in Anbetracht, daß der Verfasser nur den Unterricht einer kl. Dorfschule genoß, beachtenswerth. […]


Dieser orientierte sich offenbar an der herkömmlichen Bürgerkultur. Nicht so sehr Karl Bröger, nach dem der Sitz der Nürnberger SPD, das Verlagsgebäude der sozialdemokratischen Zeitung „Fränkische Tagespost“ benannt ist. Wilhelm Schmidt berichtet in seiner ungedruckten Festschrift von 1944:

 

[…] Der Werdegang des Nürnberger Dichters Karl Broeger [sic] (†1944) wurde von Anfang an verfolgt und seine neuen Gedichte vorgetragen und besprochen, dreimal erschien er persönlich als Gast im Orden. Selbstverständlich platzten oft auch entgegengesetzte Auffassungen aufeinander und veranlaßten anregende Aussprachen. In den Jahren um 1903 bildete der jüngere Teil der Tafelrunde die „scharfe Ecke“, welche die neuen Gestirne am Dichterhimmel pries, während die älteren Ordensgenossen diesen kritischer gegenüberstanden. […]


Freitag den 23. September 1910    27. Wochenversammlung

[…] Beckh verliest […] eine Anzahl Gedichte der Herren Karl Bröger und Wilhelm Übelacker, die sich beide um die Nürnberger Schillerstiftung beworben haben. Die Gedichte von Bröger „Die Seele der Nacht“ — „Vision“ — „Panta rhei!“ — „An die Unberufenen“ — „Wem gilt mein Lied?“ — „Liebesepistel“ — sowie die Verse von Übelacker „Nach dem Gewitter“ — „Kleine Wolken“ — „Sonnenuntergang“ bezeugen fast durchgehends feine Naturempfindung und wahren die schöne Form, so daß sie sehr beifällig aufgenommen werden. […]


Freitag, den 30. September 1910    28. Wochenversammlung

Von dem oft erwähnten Arbeiter-Dichter Karl Bröger, aus dessen Werk Proben seines poetischen Schaffens im Oktoberheft der Südd. Monatshefte mit Einleitung des Münchener Literaturhistorikers Prof. Franz Munker geboten werden, gibt Beckh eine Besprechung von Borngräbers „Die ersten Menschen, ein erotisches Mysterium“ wieder. Hier zeigt sich unser talentierter junger Dichter von einer neuen Gestalt, als witziger Kritiker. Nur schade, daß der jugendliche Draufgänger seiner Bosheit für das Gefühl als ernsthafter Nachprüfender allzusehr die Zügel schießen läßt. […]


Freitag, den 25. November 1910    35. Wochenversammlung

[…] Beckh macht die Mitteilung daß Aussicht besteht, daß die gesammelten Gedichte Brögers im Inselverlag erscheinen werden. Hohe u. einflußreiche Kreise, darunter auch Prinz Rupprecht schenken dem jungen Dichter ihre Aufmerksamkeit. Beckh verliest anschließend an diese Mitteilung 2 sehr tiefe u. formschöne Bröger’sche Gedichte „de profundis“ und „Das Ewige“.


Freitag, den 23. Dezember 1910    39. Wochenversammlung

[…] Beckh verliest […] eine Anzahl Gedichte der Herren Karl Bröger und Wilhelm Übelacker, die sich beide um die Nürnberger Schillerstiftung beworben haben. Die Gedichte von Bröger „Die Seele der Nacht“ — „Vision“ — „Panta rhei!“ — „An die Unberufenen“ — „Wem gilt mein Lied?“ — „Liebesepistel“ — sowie die Verse von Übelacker „Nach dem Gewitter“ — „Kleine Wolken“ — „Sonnenuntergang“ bezeugen fast durchgehends feine Naturempfindung und wahren die schöne Form, so daß sie sehr beifällig aufgenommen werden. […]


Freitag, den 30. September 1910    28. Wochenversammlung

Von dem oft erwähnten Arbeiter-Dichter Karl Bröger, aus dessen Werk Proben seines poetischen Schaffens im Oktoberheft der Südd. Monatshefte mit Einleitung des Münchener Literaturhistorikers Prof. Franz Munker geboten werden, gibt Beckh eine Besprechung von Borngräbers „Die ersten Menschen, ein erotisches Mysterium“ wieder. Hier zeigt sich unser talentierter junger Dichter von einer neuen Gestalt, als witziger Kritiker. Nur schade, daß der jugendliche Draufgänger seiner Bosheit für das Gefühl als ernsthafter Nachprüfender allzusehr die Zügel schießen läßt. […]


Freitag, den 25. November 1910    35. Wochenversammlung

[…] Beckh macht die Mitteilung daß Aussicht besteht, daß die gesammelten Gedichte Brögers im Inselverlag erscheinen werden. Hohe u. einflußreiche Kreise, darunter auch Prinz Rupprecht schenken dem jungen Dichter ihre Aufmerksamkeit. Beckh verliest anschließend an diese Mitteilung 2 sehr tiefe u. formschöne Bröger’sche Gedichte „de profundis“ und „Das Ewige“.


Freitag, den 23. Dezember 1910    39. Wochenversammlung

[…] Ein besonderer Genuß wird der Tafelrunde durch Darbietungen mehrerer Gedichte Carl Broegers [sic] zu teil. Den Vortrag derselben übernehmen die Herren Dr. Beckh und Grimm, die von Herrn Broeger darum gebeten werden. […] Die beiderseits sehr gut vorgetragenen Sachen werden mit herzlichem Beifall aufgenommen, insbesondere finden „Chor der Ungeborenen“ und „Feldüber“ volle Beachtung.


Freitag den 13. Januar 1911    2. Wochenversammlung

[…] Zuerst verliest Beckh das Bröger’sche Gedicht „Lied der Arbeit“, das ein kraftvolles u. formenschönes Hohelied auf die menschliche Arbeit, u. zwar des körperlichen u. des geistigen Schaffens, bildet. Dann folgt das weitere Bröger’sche Gedicht „Winterabend“ ein prächtiges Stimmungsbild, aus den schönen Winterbildern, die uns der diesjährige Winter in r.M. bietet, herausgewachsen u. mit feinem Gefühl verarbeitet. Den Schluß bildet die Verlesung eines Lustspiels „Die Probe“, das Herr Bröger vor ungefähr Jahresfrist verfaßt hat. Das Lustspiel spielt in einer deutschen Kleinstadt ums Jahr 1782 und behandelt eine lustige Erbschaftsgeschichte. Das Lustspiel hat, wie der Verfasser selbst zugibt eine ungesunde Länge und müßte, wenn es wirken sollte, zu einem Einakter zusammengestrichen werden. Manche Stellen sind recht lustig u. geschickt geschrieben u. gefallen durch den Fluß der Sprache. Mit dem Lustspiel als Ganzes kann sich aber die Tafelrunde nicht einverstanden erklären. […]


Bröger war als Gast anwesend. Vielleicht nahm er die Kritik übel; jedenfalls scheint er späterhin nicht mehr gesehen worden zu sein. Angesichts der Tatsache, daß in diesen Jahren kaum eine Sitzung verging, ohne daß ein oder zwei seiner Gedichte verlesen wurden, nimmt es schon wunder, daß er nicht in den Blumenorden aufgenommen wurde. An diesem selbst scheint es nicht gelegen zu haben.


Freitag den 18. Oktober 1912        29. Wochenversammlung

[…] Beckh verliest einen Aufsatz des bekannten Literaturhistorikers Barthels über Bröger. Darin erscheint die Begabung Brögers nicht durchwegs treffend gewürdigt. Was Barthels an Bröger als einem „metaphysischen Kulturpoeten“ hervorheben zu müssen glaubt, gehört wohl zu dieses Dichters Schwächen. Abgesehen davon, daß Versuche, erkenntnistheoretische Probleme zu lösen, trotz glänzender Ausnahmefälle (z.B. Heraklit, Giordano Bruno, Nietzsche) nicht in das Reich der Poesie gehören, und deshalb reflektorische Dichtung stets unechte Dichtung ist, kommt Brögers Gedankendichtung, die erfreulicherweise ja nicht den Hauptinhalt seines Schaffens bildet, aus einem nicht philosophisch geschulten Kopf und zeigt selten mehr als das — häufig hilflose — Verlangen nach mystischer „Tiefe“ und den Mißbrauch wissenschaftlicher Termini. Gerade auf entgegengesetztem Gebiet scheint Brögers Stärke zu liegen. Das Urwüchsige und Ursprüngliche, das Unmittelbare und Anschauliche gibt seinen Gedichten mitunter überraschende Kraft und Schönheit. Seine oft erfinderische Sprache wirkt da am mächtigsten, wo sie — weit entfernt von der begrifflichen Welt der Philosophie — Erschautes und Erlebtes, Empfundenes und Ersehntes mit feinem Naturalismus zum Ausdruck bringt. Wahrscheinlich wird die ungewöhnliche dichterische Begabung Brögers, die sich in seinen bis jetzt vorliegenden Gedichten unverkennbar, wenn auch noch keineswegs vollkommen äußert, erst dann zu voller Entfaltung gelangen können, wenn der Dichter den Einfluß Hebbels überwunden und seine starke, zu hoher Erwartung berechtigende Eigenart selbständig entwickelt haben wird. — Kraus tadelt an der Propaganda für Brögers Gedichte das „Kokettieren“ mit dem Nimbus des „Arbeiterdichters“ und verbreitet sich, an eine Betrachtung über die gesteigerte Empfänglichkeit der Künstlerseele anknüpfend, in temperamentvollen und bemerkenswerten Ausführungen über die Bedeutung der Ehe für den Schaffenden. […]


Freitag, den 12. Juni 1914.    22. Wochenversammlung

[…] Ortmann las alsdann aus der Gedichtsammlung von Broeger: „Die singende Stadt“ eine Anzahl Gedichte vor, welche, soweit sie rein lyrisch sind, alle die von ihm bekannten Vorzüge zeigen. Wo er tendenziös und politisch wird, fehlt es ihm vielfach an der Bemeisterung des Stoffs, wodurch er zu ungeschickten Bildern und falschen Schlüßen kommt. Auf alle Fälle liegt ihm dieses Gebiet weit weniger, als das rein lyrische. — O. Börner.


Was die Ordensmitglieder daran so ansprach, sollte man nachvollziehen können. Die folgenden Beispiele sind in Schachtel 60 des Pegnesenarchivs zu finden.


Wiese der Kindheit


Viele grüne Wiesen

liegen um die Stadt.

Aber eine nur von diesen

vielen schönen grünen Wiesen

ist es, die mein Heimweh hat.


Häuser stehen heute,

wo die Wiese meiner Kindheit lag.

Immer aber bleibt mir das Geläute

unsrer wilden, heißen Knabenfreude

tief im Ohr bis an den letzten Tag.


Zwischen Traum und Wachen

steht die Wiese stets in meiner Schau,

und aus allem harten Mühn und Machen

schweb ich dann mit buntpapiernen Drachen

hoch und selig auf ins Blau.


Viele grüne Wiesen

liegen um die Stadt.

Aber eine nur von diesen

vielen schönen grünen Wiesen

ist es, die mein Heimweh hat.


Ich (Kügel) bekenne gern, daß dies für mich haargenau auf die Wiese hinter dem „Neuen Theater“ zutrifft, auf der ich um 1956 Drachen steigen ließ. Heute sind dort die Produktionshallen der Schöller-Werke.


Dom und Kamin


Doppelgesichtige Stadt! Wie grüßen Burg noch und Dome,

reizender Straßen Flucht und der Höfe heimliches Spiel!

Ueber verschnörkelte Giebel weg

tauschen Jahrhunderte Seelen aus

und spinnen den Traum fort

einst gewesener Blüte.


Lieb ist dies Antlitz mir

das Grüße bestellt von Ahnen,

kraftvoll und frei,

wo jeder Zug im Lichte glänzt

würdiger Taten.


Doch dein andres Gesicht grüßt mir vertrauter, Stadt,

ob auch von Schweiß überströmt, von Ruß gestriemt.

In karger Ebene um alte Tore gelegt

dampfen Fabriken und wölken den Himmel mit Rauch.

Recken sich drinnen auch Türme hoch, und ragt die Burg:

Höher noch flattern die grauen Banner der Arbeit,

wehend über mir und den Brüdern,

denen lebendig die Brust pocht in Not und Jubel.


Stern der Geschichte und Fleisch dieser Zeit

wachsen in dir zusammen, gepriesene Stadt!

Dome predigen dein Unvergängliches, und Kamine,

und künden den einen Geist: werkhaft und weltsinnig!


Ein ganz anderer Geist, vorderhand kaum unterscheidbar, drückt sich im Werk eines fast ebenso hoch geschätzten Autors aus: Gustav Frenssen. In der Stammliste wird er geführt als „geboren 19. 10. 1863, ehedem Pfarrer, dann Dichter und Schriftsteller; zum Ehrenmitglied ernannt 28. 1. 1910“.


Freitag den 26. Oktober 1906        32. Wochenversammlung

[…] Dr. Voit teilt einen Aufsatz Paul Mahn’s mit, der den „neuen Frenssen“ behandelt u. in der „Täglichen Rundschau“ erschienen ist. Entgegen der letzthin im „Fränkischen Kurier“ erschienenen Besprechung zollt Paul Mahn dem neuen Roman Frenssens vollstes Lob u. rühmt die schöne Sprache u. den hohen patriotischen Geist, der ihm eigen ist. […]


Freitag den 3. Dezember 1909    34. Wochenversammlung

[…] Der übrige Teil des Abends wird durch einen Bericht Stellers über Frenssens Roman „Klaus Hinrich Baas“ ausgefüllt, aus dem auch mehrere Proben gegeben werden. — Der  Berichterstatter stellt den neuen Roman Frenssens sehr hoch, lobt dessen prachtvolle Entwickelung u. die lebensvollen Schilderungen der darin behandelten Menschen, sowie der sie umgebenden Welt. Die Sinnlichkeit trete nicht in der Form auf, wie sie seinen letzten Romanen eigen ist, sondern bewege sich in mehr selbstverständlichen gesunden Bahnen. Besonders diejenigen, die dem Heimatlande Frenssens näher stehen werden den Inhalt des Buches mit großer innerer Freude in sich aufnehmen. Einige umfangreiche Proben aus dem Werke lassen die großen u. wertvollen Schönheiten der Einzelschilderung erkennen u. befriedigen sehr.


Es hilft nichts, die Mitgliedschaft dieses späteren Nazis durch den in jener Liste angebrachten Vermerk „Verbleib ungeklärt“ zu kaschieren, falls das die Absicht gewesen sein sollte. Gegen 1914 wurden die nationalistischen, kolonialistischen und rassistischen Töne, die schon geraume Zeit mitgeschwungen hatten, lauter, und man vereinnahmte in diesem Sinne sogar die Gründer des Friedrichshagener Dichterkreises, in dem eigentlich fast alle fortschrittlichen Schriftsteller vertreten waren:


Dienstag den 26. Mai 1914.

Den Vortrag für den heutigen, letzten öffentlichen Abend im Winterhalbjahr 1913-14 hatte Mitglied Herr Conr. Gust. Steller übernommen. Als Thema hatte er sich das Wirken und die Dichtungen der Brüder Heinrich & Julius Hart gewählt. [Überaus ausführliche, halbseitige Wiedergabe im Fränk. Kurier, o. Z., verfaßt von Oskar Beringer]

[…] Wir haben in den Brüdern Hart zwei prächtige Menschen unseres Blutes und unserer Art, zwei Menschen besten germanischen Wesens. Tief und fest wurzeln ihre Gefühle und Anschauungen in der deutschen Heimat, in der deutschen Familie. […] Am meisten aber wurden ihre „Kritischen Waffengänge“ beachtet, mit denen sie erfolgreich gegen Mittelmäßigkeit und Banausentum in der Literatur ankämpften. Aus demselben Geist heraus bildete sich ein Literarischer Verein, der sich den Namen „Durch!“ beilegte, in dem mit viel Temperament debattiert wurde. Neben den Brüdern Hart gehörten demselben an: Arno Holz, Johannes Schlaf, John Henry Mackay, Adalbert v. Hanstein, auch Gerhart Hauptmann ließ sich öfter sehen, weiter der Naturwissenschaftler Wilhelm Bölsche und Bruno Wille, der Freigeist und Poet. — Friedrichshagen am Müggelsee bei Berlin, wo die beiden Brüder wohnten, wurde wie sich Heinrich Hart ausdrückt, eine Art Mekka. […]




Eigene Werke der Nürnberger Mitglieder


Obwohl es noch viele weitere Schriftstellernamen gibt, die in den Protokollen der Freitagsversammlungen eine Rolle spielen, wird es aus Platzgründen höchste Zeit, einen Blick auf selbstverfaßte Texte der Pegnesen am Ort zu werfen. Sie spiegeln das Gemenge der Zeitströmungen.


Fürst-Bismarck-Lied.

Melodie: Kommt Brüder trinket froh mit mir.


Nun, deutsche Männer, tretet an

Und schaart Euch froh zu Reihen,

Heut gilt es einem stolzen Mann

Ein stolzes Lied zu weihen!

Wir feiern seinen Ehrentag

Bei Red und Lied und Festgelag:

Fürst Bismarck ist der Mann,

Stoßt an, stoßt an! […]


Ende März 1893. Dr. W. Beckh.


Rudolf Geck las in den Wochenversammlungen der Jahre 1895 und 1896 regelmäßig seine Gedichte vor, fast als ständige Programmpunkte, und erntete damit „ungetheilten Beifall“. Einige Proben:


Küsse mich auf beide Augen

Küsse mich auf beide Augen

Daß sie träumen von den deinen,

Daß sie dich im Traume sehen,

Daß am Tage und zur Nacht sie

Deinen weichen Atem fühlen,

Deiner Lippen weiches Pressen —

[vor den letzten beiden Versen stehen Bleistift-Fragezeichen]


Küsse mich auf beide Augen

Daß entfernt vom Taggewühle,

Unter lärmendem Gehaste

Sie doch immer deiner denken;

Und nur dich, ja dich nur suchen.


Küsse mich auf beide Augen

Daß in heil’gem Zorn sie glühen,

Daß sie mitleidsvoll sich senken

Daß der Träume weiche Welle

Nur im Lichte zitternd falle!

Küsse mich auf beide Augen.


II.

Mütterchen ist eingenickt,

Nur der Regulator tickt,

Zwischen uns der Tisch und ich

Neige flugs hinüber mich.


Standen beide auf den Zehen,

Tief in’s Auge uns zu sehen,

Waren uns so nah, und da —

Ja, wer weiß, wie es geschah?


Mütterchen ist aufgewacht,

Hat in sich hineingelacht,

Spricht vergnügt und aufgeräumt:

Kinder ich hab hübsch geträumt.


III

Stürzt ich, ein brausender Waldbach zu Thal!

Ahntest du mich schon früher einmal?


Wie ich durch blühende Wiesen geschäumt,

Hast du an meinen Ufern geträumt!


Leuchtende Farben! Lippen so rot!

Hüte dich Blume! Mein Kuß ist der Tod!


Neigtest dich dennoch! Entwurzelt, verblaßt,

Ruht mir im Arm, die ich stürmend umfaßt.

Dröhnende Qual! Doch ich laß dich nicht los,

Liebliche Leiche in meinem Schooß!


Klagend umfängt dich Thränengeleit:

„Rede nur Blume: ist es dir leid?“


IV

Alle meine kleinen Lieder

Unter ihrem Kissen liegen

Und zu mitternächt’ger Stunde

Wird sie darauf ihr Köpfchen schmiegen.


Und den kleinen Liederseelchen

Bin Gebieter ich und Meister,

Sie gehorchen meinem Winke,

Also sag ich Euch, Ihr Geister:


Tollen Unsinn sollt Ihr treiben,

Schlüpft hervor aus dem Verstecke,

Bildet raschelnd einen Reigen,

Schwebt und huschelt bis zur Decke!


Zieht sie an den ros’gen Öhrchen

Drin die Bernsteinperlen hangen,

Zupft sie an den kleinen Füßchen

Die heut nicht zu mir gegangen!


Macht ein wüstes Durcheinander!

Tanzt und kichert, meine Wichtchen,

Lüpft die Decke, zerrt das Kissen!

Streichelt husch, ihr das Gesichtchen!


Herzt sie! Aber laßt das Küssen!

Blast sie! Zaust die schwarzen Haare!

Scheucht das eigensinnge Fältchen

Zwischen ihren Augenpaare!


Flattert! Gaukelt! Aber lieblich!

Wehe Euch, wenn sie erwachte!

Herzt sie, bis im Traum sie lächelt!

Rückt das Köpfchen! Aber sachte!

VI [diagonal gestrichen:]

Oft in der Arbeit halt ich ein,

Daß ich die Augen mir erfühle —

Dann fühl ich heißer Flammen Schein

Und ungeahnte Lichtesfülle!


Ich weiß daß du’s mein Seelchen bist,

Das eilig, im Vorüberfliegen —

Mir feurig Mund und Augen küßt,

Doch heimlich, heimlich und verschwiegen.


Das war wohl das Äußerste an Fin-de-siécle-Erotik, was der Blumenorden  verkraftete. Aber Geck konnte auch Naturalismus:


Schläferin


Durch’s Gelände, durch die Wälder braust der Bahnzug. — Auf der Bank

Sitzt ein Weib mir gegenüber das in leisen Schlummer sank.


Dürft’ge Kleider! Harte Hände! Ein verrunzelt Angesicht.

Durch das Fenster flutet breites, gelbes Morgensonnenlicht!


Nicht verklärend! Nein verschärfend, unerbittlich jeden Zug!

O, der Wunden! O, der Narben, die ihr Leid und Arbeit schlug!


Seine Schatten grub das Leben, scharf um Nase ihr und Kinn.

Schweres Atmen! Alles deutet: Siehe eine Kämpferin!


Nun auf kurzer Strecke schläft sie: Störe nimmer ihre Ruh!

Ihre Narben sind geheiligt und sie kämpfte mehr als du!


Es war keineswegs so, daß ein Mitglied irgendetwas liefern konnte, was dann automatisch gutgeheißen worden wäre.


9. W.V. Freitag den 28. Febr. 1896

[…] Ferner „Clara“ ein Drama in 5 Aufzügen von unserem Mitglied Reusch. Es muß hier der Wille für die That gelten und die Anwesenden ehrten denselben dadurch, daß sie die Lesung über sich ergehen ließen. […]


Wenn man weiß, daß jedes dieser Protokolle am Anfang der folgenden Sitzung verlesen wurde und durch Abstimmung genehmigt werden mußte, wird die Zurechtweisung, die der glücklose Autor hinnehmen mußte, erst deutlich. Auch Änderungswünsche wurden zu Protokoll gegeben:


7. April 1899     13. Wochenversammlung

[…] Ueber Kügemanns Schauspiel „Wachtmeister Frommel“ entspinnt sich ein lebhafter Meinungsaustausch. Geißler wünschte eine weniger rasche Entwicklung des Schlußes, Wingenroth findet den verarbeiteten Stoff zu reich und glaubt daß der Inhalt des Stücks als Roman glücklicher verarbeitet werden könnte. Heller theilt diese Meinung und kritisirt das Zusammendrängen so vieler Handlungen. Eine sich anschließende Debatte über eine Titeländerung des Schauspiels bringt zwar manchen Vorschlag und wird als bester Titel „Die beiden Frommel“ bezeichnet.


Die Verbreitung von Texten aus dem Nürnberger Kreis des Blumenordens beschränkte sich nicht auf die Mitgliedschaft und die Besucher von Ordensveranstaltungen.


15. Wochenversammlung am Freitag den 22. April 1898

[…] Beckh [verlas] seine für die Veröffentlichungen des Alpenvereins verfaßten Verse „Hohenstein“ „Der Wichsenstein“ […]


7. October 1898     31. Wochenversammlung

[…] Es wird beschloßen, daß nächsten Freitag jedes heute anwesende Mitglied ein oder zwei Sprüche, die für den neuen Rathskeller geeignet sind, mitzubringen hat. […]


Am 14. October 1898 32. Wochenversammlung

[…] In Folge des Beschlußes in voriger Sitzung wurden die für den Nürnberger Rathskeller bestimmten Sprüche verlesen und berathen

Schmidt 4 Sprüche

Geißler 4

Knapp 8

Bernhold 1

Beringer 2

Lambrecht 4

Beckh 3

[Bleistiftnotiz: „angenommen wurden seinerzeit 1 v. Schmidt 1 v. Beckh die zum großen Theil Anerkennung fanden.“ …]


D. 21. October 1898 33. Wochenversammlung

[Beckh] verliest hierauf nochmals die Verse, die von der Tafelrunde für den Rathskeller gefertigt worden waren. Er fügte noch 7 Verse von sich und verschiedene Sprüche und Reime von Seyfried an. Es wurde aus allen vorhandenen Gedichten eine Auswahl getroffen und beschloßen, diese dem Herrn Bürgermeister Schuh zu übergeben. […]


Prolog für den Wohltätigkeitsabend zum Besten der Nürnberger Stadtmission

Mittwoch, 27. November 1912 im Evangelischen Vereinshaus


gedichtet von Dr. Emil Reicke

gesprochen von Fräulein Grete Riedel


Gilt es nicht ein Abschiednehmen

Draußen jetzt in Wald und Heide?

Herbstes letztem Schmuck zu Leide

Hat November aufgeräumt.

Schrumpflig welk an dürren Ästen

Hängen ein paar Blätter nur.

Und aus dem Gewölk, dem grauen,

Scheint der Alte schon zu schauen,

Der die kahlgewordnen Auen

Breit mit weißem Tuch besäumt.


Früh schon naht der Nächte Dunkel.

Aber in den Straßen flimmert

Helles Licht. Aus Läden schimmert

Bunter Schätze Glanz darein.

Abendlich nicht mehr im Freien

Tummelt sich der Kinder Schwarm.

Nur verstohlen durch die Scheiben

Seh’n sie wirre Flocken treiben,

Möchten gern im Zimmer bleiben

Bei der Lampe trautem Schein.


Frohe Kinder! Mutterliebe

Hängt an Eure roten Wangen

All ihr sorgend süßes Bangen,

Triumphierend der Gefahr.

Jahre ziehen. Sanft verrauschet

Ungetrübter Jugend Glück.

Seht Ihr nicht beim Geigenklingen,

Wie sie schon im Tanz sich schwingen,

Hand in Hand dann fester schlingen,

Sich zu einen am Altar?


Aber denkt Ihr, treue Eltern,

Jener Kinder auch hinieden,

Die, von Schicksals Gunst gemieden,

Niemand sich zu Tische lud?

Hohl aus halbzerbrochnem Fenster

Grinst uns Gram und Zwietracht an.

Wie soll Kindes Herz erwarmen,

Wenn selbst aus der Mutter Armen

Haß ihm wächst und das Erbarmen

Nie an seiner Wiege ruht!


Unbehütet, bar der Liebe

Möchten auf verschneiten Feldern

Einsam selbst in finstern Wäldern

Nicht verlieren sie den Pfad.

Aber in dem Qualm der Städte

Fällt das Opfer ungehört.

Glück suchst Du Dir zu gewinnen,

Töricht Kind, und wirst nur innen,

Daß es jäh Dir muß entrinnen,

Krampfend die Verzweiflung naht.


Ausgebrannt in leerer Kammer

Ist das letzte Licht. Die Stiegen

Schnell hinunter! Flocken fliegen,

In den Haaren zaust der Wind.

Schatten schwanken, irres Leuchten

Spiegelt sich im dunklen Fluß.

Dem das Leben brach in Stücke,

Ach, wer hält das Weib zurücke,

Daß es sich nicht von der Brücke

Stürzt mit vaterlosem Kind!


Oft vergebens rufen Stimmen:

Bleibe! Gib Dich nicht verloren!

Denn auch Du bist auserkoren

Neuem Leben, nicht dem Tod.

Oft vergebens! Doch nicht immer.

Denn der Helfer ist am Werk.

Treue Schwestern in den Gassen

Suchen jene, die verlassen,

Kennen sie am Blick, dem blassen,

Heben sie aus Schmach und Not.


Und auf glattgestrichnen Kissen

Betten sie, die sie gefunden.

Heiliger Ruhe fromme Stunden

Laben sie zum ersten Mal.

Nie noch so mit sanftem Streicheln

Hat der Morgen sie geweckt.

Hauses Frieden recht zu spüren,

Lernen sie die Hände rühren,

Folgsam nach der Schwester Führen;

Seligkeit auf solche Qual!


Und für weitren Daseins Kämpfe

Stählet sich der Kräfte Streben.

Oft schon ward zu bessrem Leben

Hier der Keim ins Herz gesenkt.

Doch wie schwach sind unsre Hände

Und wie riesengroß das Leid!

Will er Segen sich erraffen,

Darf der Helfer nicht erschlaffen,

Muß er unermüdet schaffen,

Gottvertrauend, Gottgelenkt.


Schaffet mit! Seid uns willkommen,

Die Ihr fehlen heut beim Feste

Nicht gewollt, liebwerte Gäste,

Treu dem Ruf der Stadtmission.

Helft ein eigen Heim ihr bauen,

Das der alte Geist durchweht.

Glaube zündet lichte Kerzen,

Liebe sucht nach fremden Schmerzen,

Hoffnung quillt in wunden Herzen,

Das sei Euer Dank und Lohn.


Eindringliche Gebrauchslyrik, aus der zumindest hervorgeht, daß man das Problem der dysfunktionalen Familien, der emotionalen Verwahrlosung durch die Armut, sehr wohl kannte — und dagegen auch etwas anzubieten hatte, illusionslos.


Von dem Rechtsanwalt Dr. Fritz Buchmann, in den Orden aufgenommen im Jahre 1900, sind Gedichte aus den Jahren 1903 bis 1907 erhalten. Eines ist in der Art der Wortzusammensetzung und im Satzbau, ja im Oh-Mensch-und-Kosmos-Pathos gewissen Texten Rudolf Steiners ziemlich ähnlich. Es ist jedenfalls modern, insofern es zur Zeit des Jugendstils bereits auf den Expressionismus voranweist:


Auferstehung!


Wir beteten also:

    Du Heiland der Welt,

    Komme zu uns

    Und bleibe mit uns,

    Und heile uns —!

    Du Land der Sehnsucht,

    Heimat des Herzens!

Und eine Stimme uns hörend sprach:

    Den Weltenheiland,

    Ihr Erdenkinder,

    Hegt Euch die Tiefe der Brust,

    Den Himmelsgedanken in Euch.

Wir aber fragten:

    Wie sollen wir suchen

    Den Himmelsgedanken?

Und die Stimme sagte:

    Suchet, Suchet,

    Den Himmelsgedanken!

    Aus dunkler Nacht

    Ferne im Osten

    Grauet der Morgen.

    Ferne im Osten

    Leuchtet ein Strahlen,

    Die zitternden Schleier

    Sieghaft zerteilend.

    Der Erde Flur

    Schmückt mit Edelgestein

    Blitzend ihr duftend Gewand —

    Ein Reh schreit im Ried —

    Erdgeruch — ahnende Kraft,

    Wache, wache zum Tag

    Ahne das kommende Glück.

Wir fragten wieder:

    Wie sollen wir finden

    Den Himmelsgedanken?

Da kam die Antwort:

    Heil dem Tage!

    Die Glocken läuten

    Vom hohen Turm,

    Der furchende Pflug

    Durchgräbt das Gefield [sic]

    Harrend der Saat.

    Die Schmiede durchblitzt

    Sprühendes Eisen.

    Wohin Du blickest

    In Dorf und Stadt

    Tätiges Walten!

    Schwinge den Hammer,

    Füge die Form dem Stahl,

    Wirke, wirke dem Tag,

    Lass erstehen das Werk!

Wir aber forschten:

    Unfroh der Mühe,

    Wir sollen wir fassen

    Den Himmelsgedanken?

Und über uns

    Mit ehernem Klange:

    Heil dem Abend

    Des Schöpfertages!

    Wer Rast sich streitend erkämpfte

    Wer Ruh sich wirkend erzwang,

    der umsonst nicht gelebt

    Zu faulem Gaffen,

    Der fühle der Götter

    Schirmende Weisheit.

    Möge erklingen das Lied,

    Mög das Gebilde erstrahlen,

    Wissend, dass Du gerungen,

    Dass Du in Treuen gewirkt —

    So nütze, nütze den Abend.

    Dem erschaffenen Willen zum Dank

    Gedenke des Lebens

    Und trete hin zur Geliebten.

    Küsse des Kleides Saum,

    Ihr Haar und Mund —

    Und sage ihr stolz,

    Dass Du treu gewesen,

    Ihr getreu und dir selbst,

    Treu dem Wollen zum Dasein.

    Erhöhe Dich selbst

    Zur Grösse der Seele,

    Die gläubig Du fandest.

    Künde ihr Preis,

    Dass der Himmelsgedanke

    In eigner Brust

    Sich innig verkläre,

    Die Heimat des Herzens

    Gestaltung gewinnend:

    Denn siehe, da schreitet

    Dein Weltenheiland,

    Der Friede Sehnsucht. —

    Das Glück,

    Das unendliche Glück! …


Im Januar 1907 begann Max Schneider sich im Orden bemerkbar zu machen; selten verging eine Sitzung, in der nicht Gedichte von ihm mit Beifall vorgetragen wurden. Er hätte den Orden als Podium nicht nötig gehabt, wie sein umjubeltes Festspiel „Das Leben“ zeigt, das beim Künstlerfest am 8. Januar 1908 zur Aufführung kam. Wilhelm Beckhs Feuilleton zu diesem Anlaß wurde im „Fränkischen Kurier“ abgedruckt:

Nürnberg, 18. Jan. […] Haben wir doch selten einen spontaneren Beifallsjubel erlebt, als wie er sich brausend erhob nach der geradezu faszinierenden Schlußszene, wo die im Festgewand erstrahlenden Mitwirkenden mit Kränzen und wehenden Tüchern singend und jubelnd das in dem Tempel thronende «Leben» begrüßten und der Chor und das Orchester, angefeuert durch ihre begeisterten Dirigenten, Unübertreffliches leisteten.


Max Schneider […] legt seinem […] Festspiel zwei Hauptgedanken zugrunde:

1) Das Werden des Künstlers, 2) Die Wertung des Lebens.

[…]

Der Wirklichkeit bedeutende Gestalten,

Die bunten Bilder aus dem Märchenland,

Sie trinkt mein Auge, und es bebt die Hand,

Des Schönen Fülle glühend festzuhalten.

[…]

Kein tausendjähriger Glaube ist zu hoch,

Kein Glück zu tief, kein Leid ist ohne Ende,

Denn nichts besteht, was nicht besiegen könnte

Der freie Geist, der nie sich selbst betrog,

Der auf des Zweifels steilen Dornenpfaden

Mit jeder Wahrheit um die Krone rang,

Der jeder Tugend in die Seele drang

Und auf der Schönheit letzten Grund geraten.

[…]


Aber sogleich belehrt ihn auch hierin die nun auftretende «Kultur» eines tieferen Sinnes. Nicht die Vielheit, sondern die Auslese ist das Bedeutsamste im Leben und in der Entwicklung der Menschheit. […] Die Erscheinung der Kultur eröffnet nun dem Künstler einen kurzen Ueberblick über das Werden und Vergehen des Menschenlebens, und damit beginnt das Hauptspiel. [Kindheit — Bienenleben; Jünglinge — zersplitterte Leidenschaften; Ehe — große Kulturaufgabe; Greisenalter — Einblick in die Unendlichkeit und  Ewigkeit der Natur]


Wie jedes Ding mit heißem Streben

Um sein Gedeihen rastlos ringt,

Was ihm das Glück, der Sieg gegeben,

Dem Wachstum froh zum Opfer bringt, —

So durch die ganze Erde klingt

Ein Jubelhymnus auf das Leben.

[…]


Daß sich Beckh nicht bloß, um Schneider einen Gefallen zu tun, vorgedrängt hätte, dieses Feuilleton zu schreiben, geht daraus hervor, daß außer diesen beiden eine ganze Reihe von Pegnesen an dem besagten Fest beteiligt waren (Th. Brügel, Paul Johannes Rée, Karl Steller, Helene v. Forster), wie aus der hübschen Jugendstilbroschüre hervorgeht. Hier war die Öffentlichkeitswirkung des Blumenordens, wenn auch nicht unter seinem Namen, sondern aufgrund der Beiträge seiner Mitglieder, auf einem Höhepunkt.

Der mit Glanz und Gloria gefeierte 70. Geburtstag Beckhs (s.o. S. 56) war auch nicht bloß eine interne Veranstaltung, zumindest, was die Mitwirkung von Nichtmitgliedern betrifft:


[…] Der Orden hatte sich entschlossen, die Gedichte Dr. Beckh’s gedruckt erscheinen zu lassen u. sie als Geburtstagsgabe zu überreichen. […]

Das Festspiel. Verfasser Brügel, Spieler: Valerie Schrodt, Luise v. Praun, Rechtspraktikant Klinger

Der Chor „Alt-Nürnberg“ vertont durch Lehrer Blaurock, gesungen von Mitgliedern des Singvereins

„Die Irrhainnymphe“ verfaßt von Frl. Sophie v. Praun, dargestellt von Frl. Marie Hering

„Das Kraftshofer Bauernehepaar“, gemeinsam gedichtet u. dargestellt von Helene v. Forster u. Heinrich Tölke

„Der Wasserspeier“, verfaßt von Beringer, vorgetragen von Karl Preis.

Das Tafellied von Dr. Neukirch, mit Randzeichnungen von Beringer

Der Text zum Chorlied „Alt-Nürnberg“ mit einer Zeichnung von Ernst Lösch, gedruckt von Stich.


Sophie von Praun

Dryadengruß aus dem Irrhain

3. XII. 06.


Dryade (zu den drei sie begleitenden Gnomen):

Da sind wir endlich, meine lieben Kleinen,

An unserm Ziel, so will es froh mir scheinen,

Denn seht, dies ist die festlich heitre Schar,

Die heut umringt den teuren Jubilar.

[…]

(Zu den Gästen:)

Warum wir kommen, mögt Ihr wohl erraten,

Es hat uns niemand zwar zum Fest geladen,

Doch wollten wir den langen Weg nicht scheun,

Uns heute mit den Fröhlichen zu freun.

[…]

Ich lag in wunderheller Sternennacht

In unserm Hain, sah träumend seine Pracht

Da rissen mich aus meiner süßen Ruh

Die Kleinen hier und kicherten dazu.


Es folgen ein Bericht vom bevorstehenden Jubiläumsfest und etwas lange Dialoge, insgesamt acht handschriftliche Seiten A5.101 Die damals 22jährige Verfasserin, von ihrem Vater Alexander von Praun in den Orden eingeführt, aber damals noch nicht Mitglied, erfreute durch diesen nicht ungeschickt versifizierten, wenn auch schülerhaften Beitrag. Später fungierte sie jahrzehntelang als Schriftführerin.


In diese Zeit fällt auch die Aufführung eines Singspieles von Max Schneider und dem Musikpädagogen Dr. Armin Kroder, das ursprünglich für das Irrhainfest bestimmt war, sich dafür aber als zu aufwendig erwiesen hatte (s.o.). Es ging am 4. Januar 1909 im „Adler“ in Szene.


Irrungen. Ein Schäfer-Spiel von Max Schneider. Musik von Armin Kroder.


Personen:

Daphnis, ein Pegnitzschäfer … Tenor

Palmyrus Kobener, ein Patrizier … Bariton

Amaryllis, seine junge Frau … Sopran

Chloë, Cynthia, zwei Mädchen … Sopran, Mezzosopran


Ort: Irrhain bei Nürnberg

Zeit: Rokoko


Kleines Orchester


1. Vorspiel

2. Stelldichein-Duett.


[Daphnis und Amaryllis haben sich verabredet und „schreiten beide lustwandelnd nach vorne“. ]

Daphnis: Himmel und Erde will ich zu Füssen,

Göttin, Dir legen, ach, darf ich mich nur

Nochmals berauschen an Deinen Küssen!

(Er fasst sie mit beiden Händen an den Schläfen, um sie zu küssen.)

Amaryllis: Aber ich bitte Dich: meine Frisur!

(Sie macht sich los, er hascht sie wieder.)

Daphnis: Lass mich ihn trinken, lass mich ihn fühlen,

Süssesten Hauch! Meines Herzens Glut,

lass mich an Deinen Lippen sie kühlen!

(Er zieht sie ungestüm an sich.)

Amaryllis: Aber ich bitte Dich, erst meinen Hut!

(Sie nimmt vorsichtig ihren Hut ab und trägt ihn hinter die Szene. Zurückgekehrt fliegt sie ihm in die Arme […]) […]


2. Auftritt (Gesprochen.) […]

[Cynthia warnt vor dem Eintreffen des eifersüchtigen Gatten. Die Liebenden verstecken sich, Cynthia soll den Alten bezirzen, um ihn aufzuhalten, bis die beiden anderen sich entfernt haben.]


3. Melodram und Lied


3. Auftritt (Palmyrius und Cloe treten von rechts auf.)

Palmyrius: […] Sie sollen’s büssen, die mich hier

(an seine Brust schlagend) Im Heiligsten verletzt.

Und daß ich die Perrücke mir

Und auch den Rock zerfetzt! […]

[Er dankt Cloe, daß sie ihm den Betrug entdeckt hat, und sie gesteht, daß sie es nur darum tat, weil sie selber von Daphnis umgarnt und dann verlassen wurde.]


4. Arie und Szene


4. Auftritt.

Palmyrius und Cloe, dann Cynthia. (Aus dem Gebüsche ertönt in unmittelbarer Nähe der folgende Gesang; die Sängerin Cynthia bleibt zunächst unsichtbar.)

[Palmyrius ist entzückt, die Laube öffnet sich und Cynthia wird scheinbar schlafend sichtbar. Palmyrius ist gleich entflammt und weckt sie mit einem Kuß, sie entflieht, ihren Mantel zurücklassend, er ihr nach.]


5. Lied der Cloe


5. Auftritt […]


6. Liebesduett

[Zu Cloe, die sich mit Cynthias Mantel verhüllt hat, tritt Daphnis. Er hält sie für Cynthia. Sie erinnert ihn an sein voriges Liebchen, er sagt leichthin, daß diese ihn ja auch betrügen könnte. Da wirft sie den Mantel ab, gibt sich zu erkennen:]

Und ob in Deiner Brust für mich

Nichts mehr als Hass nur bliebe,

Um Deinen Hass noch fechte ich,

Weil ich Dich liebe, liebe!

[Er ist gerührt und erkennt, daß er in ihr die beste Frau gefunden habe.]


6. Auftritt.

(Die Vorigen. Cynthia aus dem Hintergrund zurückkommend, bemerkt die beiden anfangs nicht.)

[Nachdem sie das wiederhergestellte Einverständnis der beiden bemerkt hat, geht sie, das Versteck der Amaryllis aufzuheben. Cloe weiß noch nicht, daß es nicht Cynthia war, mit der sich verabredet hat.


7. Auftritt: Palmyrius erscheint und stellt Daphnis zur Rede. Er bezieht sich auf den Verrat Cloes. Bevor Daphnis ihr das verübeln kann, behauptet sie, sie habe sein Stelldichein mit Amaryllis nur erfunden, sich selbst mit ihm verabredet und Palmyrius hierherbringen wollen, weil Cloe für ihn entbrannt sei.


Fluchtduett und 9. Auftritt, in dem Cynthia und Amaryllis zurückkehren. Beide machen Daphnis Vorwürfe, daß sie von ihm nicht ernst genommen werden seien. Amaryllis verliest ein Liebesgedicht, das Daphnis an sie gerichtet hat. Es ist dasselbe, das er schon für Cloe geschrieben hat. Moralische und künstlerische Reflexionen.


10. Auftritt: Palmyrius tritt heran und, bevor er seine Frau bemerkt,

macht er Cynthia Avancen. Dafür bekommt er von seiner Frau, die sich plötzlich bemerkbar macht, eine Strafrede. Am Ende sind die Verhältnisse wiederhergestellt.]


Ach, wie schön ist doch die Tugend,

Wenn die Sünde uns misslingt!


Wie kann man die Ironie des Rokoko noch einmal ironisch brechen? Schneider ist es gelungen, aber nur aufgrund der Fremdheit, die von den veralteten Kostümen ausgeht, und eines Vorwissens, wie leichtfertig jene Zeit gewesen sei.


Mit geradezu rokokohafter Grazie entledigt sich Alexander von Praun der captatio benevolentiae am Anfang seines Prologs zum Irrhainfest 1908:


Versammelt sind nach alter Sitte

In ihres Irrhains grüner Mitte

Heut die Pegnesen frohen Sinns;

Nur Einer fühlt sich gar nicht heiter,

Eh’ wir nicht eine Nummer weiter

Wer mag das sein? Ich selber bin’s:


Denn eine Rede soll ich halten

Und kann’s doch nicht: kann nicht entfalten

Geist u. Humor in schöner Form,

Wie es die Hörer doch erwarten

Zumal in diesem Dichtergarten

Wo stets noch waltet strenge Norm.


Doch nein, nicht Euch was vorzuklagen

Hat man mir heute aufgetragen

Mit schön’rer Pflicht ward ich bedacht:

Zu danken gilt es allen, allen,

Die sich zu unsrem Wohlgefallen

Um unser Fest verdient gemacht. […]


Ja, man hat in Nürnberg damals auch Rokokovillen gebaut, die um ein Haar echt aussehen, zum Beispiel die Villa Kohn, Campestraße 10.


Das eingespielte Ritual der Irrhainfeste veranlaßte immer wieder dazu, die Gattungen des Irrhainliedes und des Irrhainspieles neu zu verwirklichen. Auch der Irrhainpfleger Hans Wießner durfte 1912 zeigen, daß er nicht nur Fabrikbesitzer und Hüter der Anlagen im Irrhain war:


Irrhainlied.

Melodie: „Wohlauf, die Luft geht frisch und rein.“


Wohlauf, es leuchtet Sonnenschein,

Hier unter mächt’gen Eichen;

Da woll’n wir frei und fröhlich sein,

Es soll der Alltag weichen.

Drum töne Lied aus voller Brust

Vom Lobe deutschen Waldes,

Von Frohsinn und von Sommerlust

Im Haine widerhallt es!

Valleri, vallera, valleri, vallera,

Im Haine widerhallt es!


Es weht jahrhundert alter Geist

Um uns in diesem Haine;

Auf’s neue unser Lied ihn preist,

Auf’s neue er uns eine!

Er geb uns frische Schöpferkraft,

Das deutsche Lied zu pflegen;

Den Sinn, der immer Gutes schafft

Zu Deutschlands Ruhm und Segen!

Valleri, vallera, valleri, vallera,

Zu Deutschlands Ruhm und Segen!


Wohlan, die Jugend nun heraus

Zu neuen Geistestaten;

Sie streue frischen Samen aus,

Die Frucht mög’ gut geraten!

Es mög’ im stolzen Fluge ihr

Das Neue wohl gelingen;

Auf daß in künft’gen Jahren wir

Der Jungen Lieder singen!

Valleri, vallera, valleri, vallera,

Der Jungen Lieder singen!


Freitag, den 28. März 1913    10. Wochenversammlung

[…] Den Reigen der Vorträge eröffnete Wießner jun. [sein Vater hatte schon seit längerer Zeit immer wieder poetische Hervorbringungen seines hoffnungsvollen Sohnes in die Sitzungen gebracht und verlesen, mit gutem Erfolg] mit seinem Einakter: „Das Volk steht auf“.

Die, in die Zeit der Befreiungskriege verlegte Handlung, der das Körnersche Lied: „Männer und Buben“ zugrunde liegt sucht uns in geschickt durchgeführtem Dialog in die damalige Zeit zu versetzen und durch Gegenüberstellung der versch. Anschauungen u. Charaktere zu zeigen, wie tief die Empfindung von Deutschlands Erniedrigung Wurzel gefaßt und wie viele bereit waren Gut und Blut zu opfern, um das deutsche Vaterland aus der korsischen Knechtschaft zu befreien. […]


Freitag den 6. Juni 1913    20. Wochenversammlung

[…] Ferner berichtet der Vorsitzende über die Leseprobe des Irrhainfestspieles: „Das Volk steht auf.“ Ein Bild aus großer Zeit von Gg. Wießner (jun.) die zur allgemeinen Zufriedenheit verlaufen sei. […]


Die Deutschen jener Zeit, alt und jung, schienen ihren Krieg ja wirklich gewollt zu haben. Wer „knechtete“ sie denn 1913, wenn nicht ihr eigener Kaiser? Ihre eigene Industrie? Ihre eigenen Militärs?


Unruhe, wohin man blickt. Der unruhige Dr. Konrad Gustav Steller, mal ausgetreten, dann wieder öfter erschienen, dann wieder eingetreten, hatte als Autor Zeittypisches zu bieten:


Freitag, 13. November 1908        35. Wochenversammlung

[…] Lambrecht übergibt als Geschenk zur Bücherei die Nummer der „Zukunft“ in welcher sich der Aufsatz Hardens „Gegen den Kaiser“ befindet.

Steller verliest den Schluß seiner russischen Novelle, die durch ihre lebensvolle und packende Schilderung, sowie durch die scharfe Charakterisierung der einzelnen Personen großes Interesse erregt u. vielen Beifall findet. Es tritt allseitig der Wunsch nach einer Veröffentlichung der spannenden Novelle zu Tage.


Der Gladiator: Ein episches Gedicht: von Konrad Gustav Steller Nürnberg 1911


Der sinkende Tag zog schwül und matt

Hin über die mächtige Hügelstadt;

Durch schimmernde Wolken tauchte die Glut

Der Sonne hinab in des Weltmeers Flut.

Schwarz lastend lag über Rom die Nacht.

Am Himmel hielt das Verhängnis Wacht,

Beklemmung brütete über dem Volke,

In flatterndem Mantel zog Wolke auf Wolke, […]


Ein junger Fechter in kahler Zelle

Sah finsteren Blicks in die Wetterhelle

Und kraftwild reckt’ er sich aus im Gemach.

Ein spärliches Lämpchen erhellt’ es schwach; […]

„Und würdest du mit dem Orkus dich einen,

Bald werd’ ich dir, Römer, als Richter erscheinen! […]

Der mich als Sklaven der Heimat entführte —

Den nicht die flehende Unschuld rührte —

der mörd’risch entweihte die Hülflose, Schwache —

es treffe dich, Römer, das Schwert der Rache! […]


Du Herrliche, die voll Jammer und Not

Sich selber richtend ging in den Tod,

Die, sühnend die Schmach der Schändung, der Schuld,

Sich selber geopfert mit stiller Geduld,

Da dachten wir nicht an Knechtschaft und Grab.

Jetzt siehst vom Himmel du Holde herab, […]


Und Schilderschlagen und Waffengeklirr

Und wieder Geschrei und Stimmengewirr —

Doch nicht auf dem Schiff: die Fechterscharen

Des Circus drohen der Stadt der Cäsaren,

Zum Aufstand einten sich kühn und entschlossen

des römischen Joches Leidensgenossen. […]

Ein pfeifender Hieb und ein Röcheln und Stöhnen,

Ein Pochen und Brechen, ein Bersten und Dröhnen,

Wie gegen die Tür die Masse sich drängt,

Mit wuchtigem Stoße die Angeln zersprengt —

„Die Stunde der Rache ist angebrochen!

Lanisten liegen und Wächter erstochen!

So wollen wir’s allen Römern bereiten

Und du, der Stärkste, du sollst uns leiten!“ […]


Und weiter wüten Schrecken und Gräuel

Und würgender Mord in dem Menschenknäuel

Und weiter wogt das wilde Gedränge

Zum Tiberstrome, zur Brückenenge.

Hoch schäumt ans Ufer die tobende Flut,

Ein schwellendes Meer von Flammen und Blut,

Ein Spiegel der brennenden Häuser und Hallen,

Auf welche die Fackeln der Wächter gefallen.

Doch hoch auf der Brücke hält hoch zu Roß

Ein römischer Ritter mit erzenem Troß;

Stolz zieht er das Schlachtschwert aus der Scheide

Und zischend zuckt durch die Luft die Schneide

Und furchtsam schon vor des Grimmigem Arm

Duckt sich und weicht der Empörer Schwarm —

Da, überschmetternd die Schrecken alle,

Gellt eine Stimme mit wetterndem Schalle:

„Der Bube ist es, der mich verraten!

Verruchter, ein Ende sei deinen Taten!“

Und auf den erbleichenden Römer dringt

Heiß flammenden Auges der Fechter und schwingt

In gewaltigem Kreise sein wuchtiges Schwert.

Fällt in die Zügel dem schnaubenden Pferd,

Schlägt seinem Gegner die Wehr aus der Hand

Und reißt ihn vom Rosse und schleift ihn zum Strand —

„Du Lüstling, der mir das Liebste genommen!

Jetzt wisse, dir ist die Rache gekommen!

Du zitterst, das Aug’ des Gewissens blickt scharf;

Als einst deine Schar mich niederwarf,

Da galt es, die schändlichste Tücke zu richten,

Mein Sinnen war einzig, dich zu vernichten.

[…] Wild rast seine Kraft, sie schüttelt und schwenkt

Den Todfeind, weithin schleudernd versenkt

Den Panzerbeschwerten sie in den Strom —

„Fluch dir, Bube, und Fluch dir, Rom!“ […]

Starr steht er am Ufer, mit funkelnden Augen

Der Rache all ihre Lust zu entsaugen,

Er blickt voll Triumph in die wirbelnden Wogen,

er sieht ihn gespannt nicht, den feindlichen Bogen,

Sieht nicht die Sehne den Bolzen entschnellen

Und stürzt mit durchbohrter Brust in die Wellen. —

Die Kämpfenden sahen mit Grausen es an,

Daß rieselnd es ihnen das Mark durchrann,

Bis daß mit verstärkter, erdrückender Macht

Der Römer begann die Vernichtungsschlacht.

Und als die Sonne den Morgengruß bot,

Da lagen die Fechter verwundet und tot…

Der Himmel ward klar und heiter der Tag,

Die Tiber gab ruhigen Wellenschlag;

In weitester Ferne nur von Rom,

Da schwoll im Grimm noch der mündende Strom,

er trug eine Bürde, so bleich und schwer,

Er trug die gefallenen Streiter ins Meer

Und gab den Wassern mit grollendem Munde

Von Romas verfallender Größe die Kunde.


Angesichts dieser Verse fällt einem wohl eher die Stuck-Villa in München ein: Düsterer Heroismus, laszive Grausamkeit, eben die ganze Katastrophe.




Sondersparten


Es gibt noch einige lose Enden, die mit dem geschichtlichen Gang zu verknüpfen nicht ganz leicht ist. Und es liegt mehr an dem geschichtlichen Zustand der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als an einer hier vertretenen Auffassung, daß Literatur von Frauen oder für Frauen nicht einfach in die vorigen Betrachtungen einbezogen werden konnte, sondern eine der Sparten bildet, aus denen sich der Verlegenheits-Sammeltitel „Sondersparten“ zusammensetzt.


Bereits als Klassiker etablierte Schriftstellerinnen wurden natürlich fraglos geehrt, z.B. Droste-Hülshoff.


 Schwieriger war für eine Anfängerin, anerkennend wahrgenommen zu werden; da hieß es schon einmal: „Beckh liest einige Verse eines 16jährigen Mädchens […] recht talentvolle Sachen, wenn auch zum Theil „nachempfunden“. […]“ Irgendwie „nachempfunden“ ist alles, womit einer anfängt, aber bei einem jungen Mann wäre die mangelnde Originalität kaum so vermerkt worden.


Die erste Stufe der Wahrnehmung von, nennen wir’s einmal, „Frauenliteratur“ geschah im Orden durch Lesungen innerhalb der Gedenktage und Feste, aber erst, nachdem die betreffenden Damen sich schon einmal in den Dienst des Vortrags bekannter Texte gestellt hatten — das geschah ab 1899.

 

Freitag den 10. März 05    9. Wochenversammlung

[…] Den Schluß des Abends bildete Sohm mit der Verlesung von Clara Viebig’s Einakter: „Eine Zuflucht“, der uns mit viel Realistik den Besuch zweiter „Wohltätigkeitsdamen“ und eines etwas salbungsvollen Pastor’s in einer Mädchenbesserungsanstalt in Berlin vorführt. Meisterhaft ist der Verkehr der „Anstaltsmutter“ mit ihren „Pfleglingen“ u. diese selbst geschildert. Bei beiden Damen u. dem Pastor sind der Verfasserin manche Übertreibungen unterlaufen, auch ist die ganze Geschichte etwas langatmig geraten. Von dramatischer Stärke ist am Schlusse des Stückes die Scene, in welcher  sich das Mädchen mit aller Kraft dagegen stemmt, dem Schutz u. der Obhut der beiden Damen sich unterzuordnen. Sie will keine Umkehr zum Bessern. Sie will hinaus in die Freiheit, zurück zu dem Leben, das sie hierher geführt u. mit ihm zu Schande u. Laster. Sehr gut hat dabei die Dichterin das krankhafte, hysterische im Wesen des Mädchens geschildert. — Sohm verlas das Stück in meisterhafter Betonung. — Es war vorauszusehen, daß sich an die Verlesung eine vielgestaltige Aussprache anknüpfen würde, in deren Verlauf Beckh u. Brügel sehr interessante Erlebnisse u. Erfahrungen aus dem Bereich ihres Berufes mitteilten. […]


Der eine war, wie erinnerlich, Psychiater, der andere Landgerichtsdirektor, und sie glaubten wohl genau zu wissen, was hysterisch sei.


Freitag den 23. April 1909    13. Wochenversammlung

[…] Schmidt berichtet über das Buch von Lu Volbehr „Die neue Zeit“, das viel Schönes enthält, jedoch dem I. Band gegenüber abfällt. Der Inhalt des Buches spielt zum größten Teil in Nürnberg.


Freitag, 5. Oktober 1906    29. Wochenversammlung

Helene v. Forster „Stimmungsbilder aus Nürnberg“

Die Künstlermonographie über Fiesole von uns. corresp. Mitgl. Wingenroth, sowie das Werkchen von Helene v. Forster werden für die Bücherei erworben. […] Die Proben aus Helene v. Forster’s neuem Werkchen „Winternacht“ u. „Der Schreinermeister“ die Beckh verliest lassen große Anspruchslosigkeit erkennen.


Freitag den 24. Februar 1908 (4. Wochenversammlung) 1. Familienvortragsabend

Der Vorsitzende begrüßt die in erfreulich größerer Zahl erschienenen Mitglieder, darunter besonders die Damen unter Hinweis darauf, daß die Anteilnahme von Damen stets Tradition im Orden gewesen sei.


Freitag den 4. April 1913    11. Wochenversammlung

[…] Ferner gab Beckh den Einlauf eines Festspieles von Fräul. Carola Kellermann, Tochter des Mitglieds Oberstudienrat Dr. Kellermann bekannt, welches gelegentlich der Schul-Gedächtnisfeier für 1813 am 14. Juni d.J. in der Oberrealschule zur Aufführung gelangen soll. […]


Freitag den 9. Jan. 1914    2. Wochenversammlung

[…] Dr. Behringer verlas einen hochinteressanten Artikel über Frauenliteratur. […] Außer der Lyrik, in welcher Verschiedene ganz Hervorragendes zeitigten, war es hauptsächlich die Novelle, der Familienroman und die Jugenderzählung, auf welche es [das weibliche Schriftstellertum] sich warf, und in welchem es teilweise großartige Erfolge erzielte. […]


Und das war’s vorerst.


Testweise soll nach den Erfahrungen mit Pegnesenschriften, die sich vor 1894 mit einer weiteren „Problemgruppe“, dem Judentum, auseinandersetzten, auch für den hier betrachteten Zeitraum nachgesehen werden, ob man etwa Antisemitismus findet.


Freitag, den 23. November 1906    36. Wochenversammlung

[…] Mit der beifällig aufgenommenen Verlesung einer im jüdischen Milieu der Stadt Frankfurt spielenden, teilweise im Dialekt dieser Stadt abgefaßten köstlichen Humoreske „Knöpfche“ von Hermine Willinger schloß der Präses den Abend um 11 ½ Uhr.


Freitag den 1. Februar 1907        5. Wochenversammlung

[…] Zeiser sendet: […] „Flatternde Nebel“ von Alfred Nathan


Geheimer Hofrat Nathan, Wohltäter Fürths (u.a. „Nathanstift“), Freizeitlyriker, wurde am 19. 3. 1917 in den Orden aufgenommen.


Freitag den 8. Februar 1907         6. Wochenversammlung

[…] Beckh verliest aus der Beilage der allgemeinen Zeitung einen interessanten Aufsatz über die Leichenfeier Berthold Auerbach’s in Nordstetten, die vor 25 Jahren stattgefunden hatte. Den Anlaß zu dieser Schilderung gab die Anbringung einer Gedenktafel am Wohnhause des Dichters […] u. die das Gedenken an den beliebten Schilderer des Schwarzwaldes u. seiner Bewohner von Neuem wachrief. […]


Freitag den 26. April 1907        15. Wochenversammlung

[…] Brügel las aus der „Neuen Rundschau“ (Februarheft 1907) „Der Sündige“ von Schalom Asch, deutsch von Esther Schneerson-Feiwel. Es ist ein in dramatische Form gekleidetes unerquickliches Machwerk, unerquicklich durch den verschleppten Gang der Handlung, insbesondere aber unerquicklich deshalb, weil der Leser nicht weiß, was er damit anfangen soll: ob die Scene ernsthaft oder satirisch zu nehmen sei. Für den ersten Fall wäre es ein dramatisiertes Wunder, das nur vom strenggläubigen Juden ernst genommen werden  könnte; in letzterem Fall wäre zu beanstanden, daß die Satire auf das orthodoxe Judentum eben doch nicht klar und befreiend zum Ausdruck kommt. […]


Genausogut hätte in bezug auf andere Religionen als mangelhaft bezeichnet werden können, daß sich ein Autor noch nicht zur aufgeklärten Freiheit durchgerungen habe — und solche gab es genug. Ebensowenig rassistisch war das Unbehagen gegenüber Eduard Engel:


Bericht über die Sitzung der gesamten Ordensleitung am Mittwoch, d. 25. September 1912, abds. 6 U. bei Hofrat Dr. Beckh.

[…] Für den Winter ist seit langem eine Vorlesung von Prof. Dr. Eduard Engel in Aussicht genommen und hat der I. Vorstand mit ihm über die Angelegenheit korrespondiert. Als Vortragsthemata hat Dr. Engel bezeichnet: 1) Wer hat die Dramen Shakespeares geschrieben; 2) Kern der Fremdwörter; 3) Frau von Stein; 4) Das deutsche Drama der Gegenwart; 5) Die deutschen Dichterinnen der Gegenwart. Von diesen Thematen würde an sich das 1ste vor anderen zusagen, allein das für den einzelnen Vortrag geforderte Honorar von M 150,- (dazu soll noch ein weiterer Vortrag „in der Nachbarschaft“ vermittelt werden) schreckt sehr ab, um so mehr als die Kasse durch den Druck der Satzungen und des Mitgliederverzeichnisses und nicht zuletzt durch die dauernden Anforderungen des Irrhains stark in Anspruch genommen ist. […]


Dienstag, den 18. März 1913,    3. öffentliche Versammlung im goldenen Adler

Prof. Dr. Ed. Engels [sic], Berlin, der Redner des Abends, hatte sich [nach Einwänden gegen das Shakespeare-Thema] als Thema: „Das deutsche Drama der Gegenwart“ gewählt. […] Seinerzeitige Tagesgrößen, wie Raupach, später Gutzkow, auch Wildenbruch, die eine Zeit lang die öffentliche Meinung vollständig beherrscht hätten, seien von der  Tagesfläche verschwunden und der jüngeren Generation kaum mehr bekannt. Auch das letzte Drittel des vorigen Jahrhunderts habe keine besonderen Leistungen vorzuweisen […] Ibsen, welcher die Betonung auf möglichste Realistik lege, habe dem Drama neue Bahnen geschaffen […] der Literaturhistoriker werde nicht darüber hinwegkommen, […] ein Hauptmannsches Zeitalter anerkennen zu müssen. Was Gerh. Hauptmanns Werke anbelange, […] meinte der Redner, daß dieselben kaum eine lange Lebensdauer erreichen würden. […]


Er teilte ganz schön aus, der sehr nationalkonservative Eduard Engel. (Heute gilt er als jüdischer Märtyrer, weil Ludwig Reimers seine „Deutsche Stilkunst“ ungestraft plagiieren konnte.) Die Pegnesen, welche Gerhart Hauptmann zum Ehrenmitglied erhoben hatten, hörten sich das an, und keinem fiel ein, Engels Ansichten etwa als Ausdruck einer allzu beflissenen Assimilation zu beanstanden. Auch der Verriß einer Veröffentlichung von Erich Mühsam hatte politische, nicht rassistische Hintergründe:


Freitag den 19. Dez. 1913,        40. Wochenversammlung

Wießner jun. brachte aus einem reichhaltigen Manuskript Erich Mühsams, betitelt: „Wüste, Krater, Wolken“ eine größere Auswahl Gedichte zum Vortrag. Unter peinlichster Ausschaltung selbst der geringsten ästhetischen Regung befleißigt sich Mühsam seine, fast durchwegs der Gosse und ihrem Zuhältertum entlehnten Stoffe, unter Beibehaltung der gesamten ihnen anhaftenden Kriminalität in Reime zu faßen, wobei nur das eine bedauerlich ist, daß er seine geschmeidige und fließende Versifizierungskunst an solch niedrige, allen Anforderungen an die Poesie direkt ins Gesicht schlagende Arbeiten verschwendet. […]


Die Frage ist überdies, ob es im Blumenorden vor 1914 bei der Wahrnehmung damaliger Literatur, mitten im Kolonialismus, Vorurteile gegenüber weiteren Rassen oder gewissen Ausländern gab. Beim alten Knapp findet man nichts als neugierige Versenkung ins Fremdartige:


34. W.V. Freitag 29. Novbr. 1895

[…] Knapp liest drei von ihm übersetzte span. Romanzen den Niedergang des Mauren-Volkes behandelnd […]


Ähnlich schon 1889:


Hr. Nestler verliest aus der Allgem. Zeitung eine anerkennende Besprechung zwei [sic] hübscher türkischer Lustspiele des Mirza Feth-Ali Akhond-Zadé, in Tiflis, welche durch die französ. Uebersetzung des Alphonse Cillière der europäischen Welt zum erstenmale bekannt werden. Der türkisch-persische Dichter bekundet ein reiches, geistreiches dramatisches Talent, dessen Stücke auch auf unserer Bühne mit Glück aufgeführt werden könnten.


8. Dezember 1899     40. Wochenversammlung

[…] Seyfried bringt zum Schluße „Dr. A. Forke Chinesische Lyrik 4-6 Jahrhundert“, worin einzelne Gedichte wegen ihrer Feinheit geradezu überraschten. […]


Aber die nächste Generation, die Zeitschrift „Jugend“ lesend, machte sich schon andere Gedanken:


[…] Lambrecht las aus der Jugend: „Stille Helden, Alltägliches — Allzu-tägliches aus dem letzten Hottentottenkriege“, eine Episode, die den Heroismus deutscher Krieger in Afrika schildert u. die laue spießbürgerliche Stellungnahme gewisser Kreise im Reichstag zu der Kolonialfrage in scharfen Kontrast dazu bringt. […]


Afrika und China dort, türkisch dominierter Orient, mit dem man gute Beziehungen pflegte (auch dann im Kriege), hier — dazu Wahrnehmung ausländischer europäischer Autoren, gerade auch Skandalautoren.


14. W.V. Freitag den 26. April 1895

[…] Müller über „Ein Sohn“ und andere Erzählungen von Guy v. Maupassant spannende und geistreiche Skizzen, psychologisch. […]


20. W.V. Freitag den 28. Mai 1897

[…] Url liest von Maeterlingk [sic] „Der Eindringling“ welcher mit gemischten Empfindungen angehört wird. […]


3. Februar 1899 5. Wochenversammlung

[…] Bernhold liest einige Gedichte Gabriele d’Annunzios und bespricht Wingenroth diesen Schriftsteller und seine Erotik. […]


20. October 1899 33. Wochenversammlung

[…] Bernhold bringt aus den Sonnenblumen einige Gedichte August Strindbergs […]

Auf Anregung Wingeroths [sic] hat sich über die Verlesung v. Feuilletons eine längere Besprechung entwickelt. Wingeroth meinte, es sollen derartige Arbeiten, die jeder in der Zeitung selbst lesen kann überhaupt nicht verlesen werden.

Letzterer bespricht dann kurz das neueste Werk Zolas „Fecondité“ (Fruchtbarkeit) […]


Freitag, den 2. Juni 1905        20. Wochenversammlung

[…] Steller [verliest] aus dem oben erwähnten Essay von Hedwig Bachmann über Oscar Wilde, worin sie den Versuch macht, die sittliche Verirrung des Dichters psychologisch zu erklären und zu entschuldigen; ihr Unternehmen muß als ein verkehrtes und mißlungenes bezeichnet werden, steht sie doch nicht an, den bedenklichen wohl der Willensschwäche des verweichlichten Mannes entsprungenen Fehltritt als eine Weiterung und Erhöhung des physischen und geistigen Menschen zu erklären.


Freitag, den 30. September 1910

Eßlinger verliest aus Wilde’s Erzählungen: „Der Geburtstag der Infantin“, eine phantastische, nicht leicht genießbare, jedenfalls aber hochpoetische Schöpfung mit einem seltenen Reichtum der Bilder und Sprachmittel.


Freitag den 5. Mai 1911        17. Wochenversammlung

[…] Lambrecht […] verliest sodann einige abschreckende Stellen aus dem Buch von Gabiele d’Annunzio „Vielleicht, vielleicht auch nicht!“ Die wenigen Proben, die sehr kräftiger Natur sind, lassen den Wunsch nach weiterem nicht aufkommen. […]


Freitag den 8. März 1912        8. Wochenversammlung

Lambrecht brachte aus Oskar [sic] Wildes: „Märchen & Erzählungen“ das Märchen: „Die Rose und die Nachtigall“ zur Verlesung, um zu zeigen, daß Wilde auch andere Saiten anzuschlagen versteht, als die in seinen Dramen p.p. [Folgt Inhaltsangabe.] Schlußmoral: Frauen sind leichter durch Geschmeide als ein selbst mit dem eigenen Herzblut erkauftes, an sich selbst wertloses Geschenk zu gewinnen. […]


Freitag, den 24. April 1914.        15. Wochenversammlung

Oskar [sic]-Wilde-Abend im Pegnesischen Blumenorden.

[…] Herr Dr. phil. Max Schneider […] Der erste Grundsatz seiner Kunst: die Wertung der Welt nach ihrem Schönheitsgehalt, ist zweifellos die wahre Stärke des Dichters. In dem zweiten Grundzug: Der Einschätzung der Schönheitswerte nach ihrer Bedeutung für das Subjekt — liegt die  Eigenart und das Ungewöhnliche; in dem dritten Grundzug: Dem Versuch der Anpassung der Kunstformen an diese aesthetisch-subjektivistische Weltanschauung — aber wohl die Schwäche Oskar Wildes. […]

Künstlerisches Gestalten und künstlerisches Genießen soll alles ersetzen — auch Ethik und Philosophie. […] Daß er hier falsche Bahnen und verhängnisvolle Wege ging, mußte der Dichter leider nur zu hart an sich selbst gewahr werden. Aber in der Einsamkeit des Kerkers fand Wilde den Weg zu einer neuen Schönheit, zur Schönheit der Religion. […] dort unternahm er bereits den großartigen Versuch, die christliche Heilsgeschichte als ein Evangelium der Schönheit auszulegen und zu verkünden, die Person des Heilands als das Urbild wahrer Künstlerschaft darzustellen. […]


Zwei zeittypischen literarischen Vorlieben wurde auch im Blumenorden gehuldigt: der nordischen und der russischen Literatur; ersterer als vermeintlich echt germanischer und doch moderner Kunst, letzterer unter dem Gesichtspunkt der vom Religiösen abgekoppelten Mystik.


20. W.V. Freitag den 22. Mai 1896

[…] Eingegangen von Raw’scher Buchh: Catilina von H. Ibsen (Jugendarbeit)


23. Februar 1900 (8. Wochenversammlung.)

[…] In hochinteressanter u. äußerst dankenswerter Weise berichtet Wingenroth über Ibsen’s neuestes Werk „Wenn wir Toden erwachen“, das wohl eines der besten Werke des jugendfrischen schwedischen [!] Dichters genannt zu werden verdient. […]


Freitag, den 21. Januar 1910        3. Wochenversammlung

[…] Steller hat die Dankrede der Selma Lagerlöf nach Empf. des Nobelpreises von seiten der schwedischen Akademie in deutscher Übersetzung mitgebracht, deren Vortrag lauten Beifall findet. Man erfreut sich an dem Liebreiz feinster Empfindungen und der Kunst der originellen Gedankenführung. Weniger kann man der ausgezeichneten Schriftstellerin, die nur von den Schweden u. Russen gelernt haben will, diese kleine — Undankbarkeit verzeihen. […]


Freitag, den 31. Mai 1912        19. Wochenversammlung

Steller trägt ein deutsches Gedicht Ibsen’s vor, in welchem er die nationale Begeisterung des Jahres 1870 bei staunenswerter Sprachgewandtheit verspottet; ein schlechter Dank für die gewährte Gastfreundschaft. […]


Verschmähte Liebe? Die zunehmende deutsche Empfindlichkeit, ja Ehrpußligkeit ist kein gutes Zeichen.


Von den russischen Autoren begegnet in den Protokollen eigentlich nur Tolstoi, dieser aber viermal (13. 10. und 3. 11. 1899, 9. 3. und 25. 11. 1900); der Favorit ist „Auferstehung“, aber auch „Tod“ (mit dem Zusatz: auf dem Schlachtfeld“ und ein Buddha-Aufsatz werden rezipiert.


Aus all diesen Erfahrungen samt den Lesefrüchten aus Literaturzeitschriften ergibt sich eine Aufgeschlossenheit für literaturgeschichtliche Ortsbestimmung:


Freitag den 17. November 1911        35. Wochenversammlung

Beckh verliest sodann aus der Zeitschrift für den deutschen Unterricht die zweite Hälfte des Jäger’schen Aufsatzes „Zur Kritik der Moderne“. […] Als Grundbedingung für eine Volkskunst bezeichnet der Verfasser ein inniges Zusammengehen u. Verschmelzen von Kunst u. Religion — oder wie er sich genauer ausdrückt — von Kunst u. Christentum. Nur auf diesem Boden erhofft er sich wieder große, umfassende Erfolge.

Steller findet, daß der Aufsatz viel Beachtenswertes enthält; daß unserer Zeit tatsächlich auf literarischem Gebiete ein großes Ziel fehlt. Das Zusammenfassen von Religion und Kunst möchte er aber in anderem Sinne angewendet wissen, wie es Jäger tut, der sich bei seinen Ausführungen nur auf das Christentum beschränkt, während an die Stelle des Christentums Religion im weitesten Sinne gesetzt werden müßte. […]


Damit ist einer Schmalspurethik Tür und Tor geöffnet, ohne daß im Sinne der Klassischen Moderne eine von Weltanschauungen freie, ergebnisoffene, ja sogar an der Möglichkeit von Ergebnissen zweifelnde Sinnsuche in den Blick käme. Es ist sogar zu befürchten, daß sich auf der Grundlage von Stellers Erwartungen an die Stelle der herkömmlichen Religion eine biologistische Volkstum-Ideologie setzen werde.


Das Volkstümliche begegnet hier allerdings noch im Gewande gemütvoller und gemütlich genossener Genremalerei. Das Humoristische überhaupt hat bei dieser Wahrnehmung durchwegs mit sozial niedriger Stehenden oder überholten Spießertypen zu tun.


15. W.V. Freitag den 3. Mai 1895

Scharrer berichtet über „Schmetterlinge“ von Wilhelm Busch.


26. W.V. Freitag den 27. Sept. 1895

[…] Schmidt aus Kobells Prosa „Der Brandner-Kaspar“, in oberbayr. Dialect, eine packende naive Erzählung, die den Volkston trifft.


28. W.V. Freitag 11. October 1895

[…] Cahn liest eine Humoreske von Wildenbruch „Mein Cirkel aus Pommern“ welche, noch gehoben durch den vollendeten Vortrag, außerordentlich anspricht und eine Zwerchfell-erschütternde Wirkung hat. […]


28. October 1898             34. Wochenversammlung

Beckh beschließt die Versammlung mit der Verlesung einer sehr humorvollen Geschichte E. v. Wolzogens „Die Gloriahose“ eine Pastorengeschichte aus Thüringen.


Freitag, 5. Oktober 1906        29. Wochenversammlung

Den fröhlichen Schluß des Abends bilden [Ludwig] Thomas köstliche Humoresken „Assessor Karlchen“, „Comtesse Muki“ und „Die Probier“, die, die Tafelrunde in so heitere Stimmung versetzen, daß sich manch einer eine Träne von der Wange wischt. […]


Freitag, den 11. Februar 1910    6. Wochenversammlung

[…] 1) Charles de Coster, Tyll Ulenspiegel u. Lamm Goedzak. Deutsch von Friedrich v. Oppeln-Bronskowski. Verlegt bei Eugen Diederichs, Jena 1909. — Aus diesem vielgerühmten Buche, das uns das Flandern der Vergangenheit im Kampfe gegen den Fanatismus des Südens schildert, bringt Heerwagen auf Verlangen eine humorvolle Episode daraus zum Vortrag. — Die Anschaffung dieses Werkes (Preis M 6.50) wird beschlossen. […]


Allmählich wird der Volkston ernster.


Freitag den 20. Dez. 1912.        38. Wochenversammlung

[…] Von Schmidt wird ein Band Gedichte des schon öfter genannten Naturdichters, Mich. Kreß: „Leyer, Schwert & Pflug“ vorgelegt, eines Oekonomen, aus der Umgegend, welcher nicht bloß emsig seinen Feldboden, sondern auch die verschiedenen Gebiete der Wissenschaften durchackert u. sich so viel wie möglich davon einzuheimsen sucht, wie seine, durch Beckh vorgelesenen Gedichte: „November 1870“, „Die roten Steine bei Weißwaßerloos“, „Pfaffenstein, 8. Juni 1908“ beweisen, in welchen er sich uns, in meistens gelungenen Versen, sowohl als patriotischer Dichter, wie als Naturschilderer, Geologe u. Anthropologe in einer Weise vorstellt, die zeigt, daß er seine Studien mit Nutzen betrieben hat. u. seine Kenntniße auch anzuwenden weiß. — Schmidt wird ersucht, den Herrn einmal einzuladen; event. mitzubringen. […]


Freitag den 3. Oktober 1913        29. Wochenversammlung

[…] Lambrecht las aus dem Werk: „Männer“ von Heidemark: „Fliegers Tod“ vor. […] Nachdem er erst als Offizier, durch eifrige Uebung und Belehrung dem Flugwesen zu einer ausgiebigen Verwertung verholfen, dringt er mit seinem Flugzeug gegen den Feind vor und richtet durch geschickt gezielte Bombenwürfe solche Verwirrung in dessen Reihen an, daß es den Seinen leicht wird ihn in die Flucht zu schlagen. Mit dem stolzen Bewußtsein Hunderte von Kameraden dem Leben erhalten zu haben, erleidet er den Opfertod. […]


Freitag, den 1. Mai 1914.        16. Wochenversammlung

[…] Heerwagen verliest seinen in der Heimat, Beil. der Nbg. Z. Nr. 9, veröffentlichten Artikel „Zur neuesten Nürnbergischen Mundartdichtung“, in dem er energisch gegen den allzu dürftigen Ehrgeiz und die unechte Stimmung der modernen Dialektdichter am Pegnitzstrand Front macht u. die Ueberlegenheit der alten Meister betont. […]


Zuletzt bleibt in diesem Abschnitt zu erwähnen — ob es zum Trost gereicht? — daß in den Jahren vor 1914 am Rande auch Namen später erfolgreich gewordener Schriftsteller begegnen, die von anderer Art waren: Ernst Wiechert (22. 11. 1897), Hans Carossa (der zu dieser Zeit in Nürnberg als Arzt praktizierte, 4. 11. 1910), und Ernst Penzoldt (vorläufig nur als Buchillustrator, 29. 12. 1911.) Er war Wilhelm Beckhs Enkel.